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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Wahrheiten von einst sind die Lügen von heute.
    »Was können sie denn von mir wissen wollen?«, frage ich Kojote.
    »Sie denken eben, du bist eine Phee. Und Pheen sind die Einzigen, die in Sachen von Leben und Tod kompetent sind. Vielleicht erwarten sie von dir, dass du ihnen ihren Sohn wieder zurückbringst.«
    »Selbst wenn ich das könnte, würde ich es nicht tun«, sage ich. »Ich habe nicht das Gefühl, dass so etwas gut funktioniert.«
    Überhaupt müsste ich mal mitschreiben, denke ich. Alles, was Pheen angeblich können. Und wovon irgendjemand denkt, dass ich es auch können muss. Da ich keine besonderen Fähigkeiten habe, kann ich keine Phee sein. Ich bin die normalste, langweiligste Person der Welt. Selbst mein richtiger Vater wollte nichts von mir wissen.
    Ich lüge mich an. Denn in diesem Moment wird mir klar, was ich kann. Und zwar durchaus besser als andere. Ich kann zerstören. Vor allem das, was mir wichtig ist. Für einen Atemzug habe ich das Gefühl, dass Flammen meine Hände versengen. Ich habe Angst, mit mir allein zu bleiben.
    »Bleibst du bei mir?«, bitte ich Kojote. »Nur so lange, bis ich einschlafe.«
    Ich sehe ihn im Dunkeln nicken, lasse mich mit dem Gesicht ins Kissen sinken, ziehe mir die Decke über den Kopf und spüre, wie der Schlaf mich langsam und sanft wegzieht.
    Als ich die Augen wieder öffne, tun sie mir weh. Die Halogenlampen leuchten das Bügelzimmer bis ins letzte leere Marmeladenglas aus, spiegeln sich in den polierten Knöpfen der mintgrünen Uniformen, die mein provisorisches Bett umgeben. Von Kojote keine Spur. Ich setze mich auf und reibe mir die Augen. Ich bin Albträume gewöhnt, auch schrecklich realistische. Weil ich Schlaf- und Wachsein nicht mehr so leicht trennen kann, bleibe ich erst einmal ruhig und blinzele, um mich wieder zu orientieren. Das ist das Bügelzimmer, in dem ich eingeschlafen war. Allerdings waren da noch keine Polizisten drin. Aber sosehr ich mich auch bemühe, die Uniformen lassen sich nicht wegblinzeln. Langsam wird mir der Ernst der Lage klar.
    »Steh auf«, sagt der Polizist am Kopfende meiner Liege.
    Die Düse seiner Spraydose ist auf mich gerichtet wie ein feindseliges, gleichgültiges Auge. Ich sehe hinein, dann hebe ich den Blick aufs Gesicht des Mannes, der sie hält. Ich erkenne ihn sofort wieder – er ist klein und rund, er schwitzt und lächelt so, dass mir sofort Gänsehaut den Rücken hochkriecht.
    Es ist kein Traum. Es ist wirklich wahr. Und ich zittere zu sehr, um ihn zu fragen, warum er von der Station bei uns im Viertel jetzt hierher versetzt worden ist.
    »Schneller.« Der Sprühkopf drückt sich kalt gegen meine Nasenspitze.
    »Wohin?«, frage ich. Meine Stimme rutscht weg.
    Niemand antwortet mir. Ich lasse die Füße von der Liege herunter, taste nach den Gästepantoffeln. Ich trage Ingrids Pyjama mit großflächigen roten Rosen auf schwarzem Hintergrund. Ich bilde mir ein, dass alles etwas leichter wäre, wenn ich wenigstens nicht diese Rosen anhätte, vor all den Männern in den Uniformen. Ich stehe auf und schaffe es sogar, mich demonstrativ zu strecken, bis sich eine weitere Dose gegen meine Schläfe bohrt.
    »Hände«, befiehlt ein anderer Polizist, er hat ein ernstes, kantiges Gesicht, wie ein guter Ordnungshüter aus einer Fernsehserie. Ich drehe mich um und strecke ihm meine Hände entgegen. Ein Klicken und die Handschellen halten meine Handgelenke in einem eisernen Griff.
    »Das tut weh«, sage ich.
    »Vorwärts.«
    Sie bilden eine Gasse, um mich durchzulassen.
    »Kojote«, sage ich leise. Aber ich entdecke ihn nirgends. Ich stolpere, schaue herunter, sehe die Fliesen an und erstarre. Auf dem Boden sind rote Flecken, hell und frisch. Vorher waren sie noch nicht da. Ich streife die Polizisten mit meinem Blick. Hier ist keiner verletzt. Aber alle treten einen Schritt zurück, sobald ich sie ansehe.
    Das Getrampel der schweren Polizistenschuhe begleitet mich auf dem Weg nach draußen. Ich gehe an Ingrid und Reto vorbei, die nebeneinander regungslos im Flur stehen, registriere flüchtig Ingrids weißes Gesicht und Retos Kopfzittern. Von Kojote immer noch keine Spur.
    »Wohin?«, höre ich Ingrid fragen.
    Und als der Polizist antwortet, falle ich fast um, weil mir die Beine einknicken.
    »Dementio.«

Dementio
    Sie verbinden mir die Augen, bevor sie mich in den mintgrünen Bus schubsen, auf den ich einen kurzen Blick werfen kann, bevor mir die Sicht genommen wird. Ich bin fast froh darüber. Jetzt muss ich ihnen nicht

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