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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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doch, ich habe einen angespuckt, weil er mich begrapscht hat.« Jetzt fällt es mir wieder ein, das Herz, das plötzlich ausgesetzt hat. Ich habe alles gehört, aber nicht kapiert, dass jemand in meiner Nähe plötzlich nicht mehr gelebt hat. Ich müsste jetzt schockiert sein. Aber ich fühle mich ganz ruhig. Er hat es nicht besser verdient, denke ich und frage mich, ob ich langsam zu einem Monster werde.
    »Sie können ja meine Spucke untersuchen lassen«, schlage ich vor.
    »Das werden wir tun«, verspricht die Stimme.
    In der darauffolgenden Stunde gebe ich mir große Mühe, mich zu konzentrieren. Immerhin schlagen sie mich nicht. Ich sitze auf dem wackligen Hocker, finde immer nur für ein paar Minuten das Gleichgewicht, bis eine falsche Bewegung mich desorientiert und ich wieder versuche, eine erträgliche Haltung zu finden. Meine Unterarme spüre ich längst nicht mehr. Die sanfte, liebevolle Stimme klatscht mir mein Leben um die Ohren. Tochter von Dr. Rudolf und Laura Rettemi. Enkelin von Ingrid und Reto. Schwester von Kassandra und Jaroslav. Zuletzt Lyzeumsbesuch. Es gibt so wenig Spannendes über mich, dass die Stimme sich in Details über meine Schuhgröße und den Lieblingsnachtisch verliert.
    Rudolf ist nicht dein Vater.
    Ausgerechnet das wissen sie nicht. Oder wissen sie es doch? Könnten sie mir sagen, wer mein richtiger Vater ist? Soll ich sie fragen? Information gegen Information sozusagen? Den Teufel werde ich tun.
    »Ja«, sage ich monoton. »Jajaja.« Ich bin zu müde, um darüber zu staunen, wo sie all die Details herhaben. Sie müssen Nachbarn und Mitschüler ausgefragt haben. Was für ein Aufwand. Jeden interviewt, der mich jemals gesehen hat. Sie haben alles herausgefunden, was man nur von außen erkennen kann. Sie erwähnen nicht, dass ich von Dr. Rettemi adoptiert worden bin. Fast beginne ich, wieder selber daran zu glauben, dass mein Vater wirklich mein Vater ist. Meine Mutter muss ihren Satz irgendwie anders gemeint haben. Aber Ingrid und Reto haben es ja auch bestätigt. Damit gilt meine zweifelhafte Herkunft als bewiesen.
    Und wo ist er jetzt, der Mann, der mein richtiger Vater sein sollte? Läuft er irgendwo da draußen herum? Ist er vielleicht sogar irgendwo hier? Bin ich ihm schon mal begegnet, ohne es zu merken?
    »Seit wann weißt du, Juliane, dass deine Mutter eine Phee ist?«
    »Keine Ahnung«, sage ich. Ich versuche, klar und deutlich zu sprechen, aber die Erschöpfung und die Kälte lähmen meine Zunge. »Das war nicht groß Thema bei uns. Meine Mutter hat sich immer ziemlich normal verhalten.«
    Jemand grunzt belustigt wegen dieser Formulierung. Auf der anderen Seite der Scheibe ertönt ein leises Kratzen, das ich sofort einordnen kann. Irgendjemand macht sich Notizen mit einem Kugelschreiber.
    »Sehr komisch«, stimme ich ihnen zu.
    »Was hat deine Mutter getan, um dich auf das Leben als Phee vorzubereiten?«
    »Gar nichts«, sage ich, wütend darüber, dass es leider die reine Wahrheit ist. »Sie hat darauf geachtet, dass ich, dass wir alle ein normales Leben führen. Nichts an uns fiel auf.«
    Warum sage ich das? Hoffe ich, dass sie mich deswegen schonen werden? Meiner Mutter muss ich hier auf diesem Stuhl keinen Gefallen mehr tun. Dort, wo sie gerade ist, gibt es Probleme wie das Dementio nicht.
    »Was sind die Gaben deiner Mutter?«
    Die Frage überrascht mich. Ich finde mit den Füßen eine stabilere Position.
    »Sie kann die Zugänge zum Wald erschaffen«, sage ich. »Sie malt sie.«
    Im Raum wird es leise. Der Stift hört auf, das Papier zu zerkratzen. Der vielfach angehaltene Atem hat etwas Unheimliches. Ich höre die knisternde Spannung der mit Luft gefüllten Lungenbläschen, spüre die Aufmerksamkeit, die sich aus unterschiedlichen Richtungen auf mir ballt.
    Was habe ich jetzt gesagt, denke ich. Das kann doch nichts Neues sein. Wenn sie so viele Informationen über mich gesammelt haben, werden sie auch wissen, womit meine Mutter sich jahrelang die Zeit vertrieben hat. Und eine illegale Malerin zu sein, kann angesichts der Tatsache, dass ich angeblich eine Mörderin sein soll, wohl wirklich niemanden mehr schockieren.
    »Zugänge in den Wald?« Jetzt spricht eine neue Stimme. Sie ist leise, die Stimmbänder scheinen angegriffen, ein kaum hörbares Krächzen mischt sich in die Zischlaute.
    »In den Wald«, bestätige ich matt. »Oder haben Sie niemals die Quadren meiner Mutter gesehen?«
    Jetzt atmen alle anderen aus. Die Luft bewegt sich stoßweise durch den

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