Spiegelriss
wenn ich schlafe und träume. Dann befinde ich mich an einem Ort, der nichts mit dem wirklichen Dementio zu tun hat.
Vielleicht hatte ich mir auch den Wald nur erträumt? Sind meine Mutter und alles, was mir passiert ist, auch nur die Produkte meiner Fantasie? Und wäre das eher eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Wenn ich träume und mir dessen bewusst bin, dann kann ich auch alles tun, worauf ich Lust habe.
Ich rappele mich auf und nähere mich dem Gitter. Rüttele an dem schweren Metallschloss und drehe es so, dass es auf der Innenseite der Tür hängt. Das Schlüsselloch ist so breit, dass mein kleiner Finger mühelos reinpasst. Ich stecke ihn hinein und drehe ihn.
Der Bügel des Schlosses springt auf und ich fange das ganze Ding auf, bevor es mir auf die Füße knallt. Auch im Traum will ich keine gebrochenen Füße haben.
Jetzt ziehe ich die Tür auf. Sie quietscht jämmerlich. Wenn es Wachen gibt, müssten die jetzt angerannt kommen und mich wieder einfangen.
In meinem Traum beschließe ich, dass niemand kommt.
Der Traum interessiert sich nicht für meine Entscheidungen.
Ich höre ihre Füße, die klobigen Stiefel, mehrere Paar, die angerannt kommen. Das Entsetzen lähmt mich, ich bleibe stehen und warte, bis sie bei mir angekommen sind. Sie tragen kein Mintgrün, sondern Schwarz, die Ganzkörperanzüge haben einen merkwürdigen weiten Schnitt, auf dem Kopf haben sie Hauben, die mit dem Kragen verbunden sind, und das Dämmerlicht spiegelt sich in den glänzenden Flächen ihrer Uniformen. Es ist die Hightech-Kleidung der höchsten staatlichen Gefahrenabwehr.
Und ich bin sicher sofort tot.
Sie bleiben dicht vor mir stehen. Noch sind ihre Gesichter frei, doch dann ziehen sie alle gleichzeitig in einem Ruck die Masken darüber, undurchsichtig, nur je zwei Schlitze deuten an, wo die Augen sein müssen.
Die gehen an mir vorbei und postieren sich mit gezückten Sprühdosen vor der Zelle, die ich gerade verlassen habe.
Ich brauche Zeit, bis ich begreife, was hier vor sich geht. Sie ignorieren das offene Gitter. Sie lassen die Dosen wieder sinken, als wäre alles in bester Ordnung. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue über ihre Schultern in die Zelle hinein. Und sehe, wie sich zwei Dinge überlagern, das alte Gemäuer mit dem offenen rostigen, mit Spinnweben überzogenen Gitter und die kahle Zelle mit der vergitterten, glitzernden Schiebetür. Ich blicke zwischen den Polizisten auf ein langbeiniges abgemagertes zerrupftes Mädchen im weißen Nachthemd, das in der Ecke kauert, vielleicht hält sie einfach still, vielleicht schläft sie ganz tief. Vielleicht ist sie schon tot.
Das Kind läuft voraus und ich folge ihm auf wackligen Beinen. Dafür, dass seine so kurz sind, ist es erstaunlich schnell. Seit es aufgehört hat zu jammern, ist es mir etwas sympathischer.
»Warte!«, rufe ich. »Sonst gehst du noch verloren.« Ich glaube nicht wirklich, dass es mir jemals antworten wird. Zwar habe ich keine Ahnung, ab welchem Alter man von kleinen Kindern Gespräche erwarten kann. Aber dieses hier hat eindeutig etwas Verhaltensgestörtes.
Okay, bei dem, was es wahrscheinlich erlebt hat, ist es nicht verwunderlich.
Das Kind bist doch du selbst, rufe ich mir in Erinnerung. Auch wenn du gern ein süßer fröhlicher Wonneproppen gewesen wärest. Dieses Kind kannst nur du sein, also beschwer dich bei dir selbst.
Ich bleibe stehen und sehe mich um, lasse den Blick über den endlosen Flur streifen, die vergitterten Zellen, in die ich hineinschaue. Ich betaste die Türen, die Haarknäuel, die Spinnweben haben sich dicht wie ein Pelz um die Gitterstäbe gewickelt. Sie hängen auch von den Decken, die Wände sind mit blühendem Schimmel übersät, der Boden ist voller Flecken, meine Augen hatten mich beim ersten Mal nicht getäuscht.
Wenn das Kind da ist und ich sehen kann, dann schlafe ich gerade, träume und befinde mich in einem alten Gemäuer. Allein, wach und mit verbundenen Augen habe ich ein ganz anderes Dementio um mich, das neu, steril und kalt ist.
Das alte Dementio trägt Spuren von vielfachem Leid.
Und dann kann ich es auch hören.
Das Geheul kommt von Weitem, es rollt an wie eine Welle und ebbt wieder ab, lange bevor es mich erreicht hat. Ich kriege nur einen Hauch davon mit, aber dennoch gefriert mir das Blut in den Adern. Es ist das schrecklichste Geräusch, das ich je gehört habe.
»Warte!«, rufe ich dem Kind zu, das auf seinen kurzen Beinen so schnell ist, dass es außer Sichtweite
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