Spiegelriss
verschwunden ist. Es trippelt zurück und bleibt in einiger Entfernung vor mir stehen, Ungeduld im Gesicht. »Kannst du es auch hören?«, frage ich und zeige auf meine Ohren.
Es guckt mich an. »Hören«, wiederholt es. Und während ich darüber rätsele, ob es ein Ja oder ein Nein ist, zeigt es ebenfalls auf seine Ohren. »Aua«, sagt es.
»Jemand hat Aua«, versuche ich es erneut.
»Mami«, sagt das Kind.
»Das ist deine Mutter, die da so schreit?« Vor Entsetzen würde ich am liebsten mitschreien.
Es schaut mich mit unergründlichen Augen an und kratzt an seinem Verband.
Der erste Heulton ist abgeebbt und dann stellt sich heraus, dass es nur ein Vorbote war für eine Welle furchtbarer Geräusche. Jetzt wird es immer lauter – Zischen und Stöhnen, Weinen und Jammern rollen heran, das Schlimmste aber ist Gelächter, das aus unterschiedlichen Richtungen kommt. Wer hier lacht, muss wahnsinnig sein.
Ich bin auch wahnsinnig, denke ich. Bald lache ich auch so. Aber noch beiße ich die Zähne zusammen. Meine Nerven sind zum Zerreißen angespannt.
Das Kind läuft voran, dreht sich nach mir um, verschwindet um die Ecke, kehrt wieder zurück und wartet auf mich, unzufrieden damit, dass ich so langsam bin. Die Gänge, durch die es mich führt, sind voller Dreck und Lärm. Der Boden ist nun nicht nur mit dem bedeckt, was ich für Blutflecke halte, sondern auch mit Erbrochenem und Fäkalien. Ich muss aufpassen, wo ich hintrete.
Hinter Gittern sind sie.
Die Erste, die ich sehe, ist eine Frau in einem ähnlichen Nachthemd, wie ich es gerade trage. Von einem Ring am Fußgelenk streckt sich eine Kette bis zu einem deutlich größeren Ring in der Wand. Die strähnigen Haare bedecken das Gesicht. Sie kauert in einer Ecke und wankt dabei rhythmisch hin und her. Sonst macht sie keinerlei Töne. Der leise Gesang muss aus der benachbarten Zelle stammen. In fast jeder Zelle ist eine Frau. Sie ähneln sich so sehr, dass ich keine Chance habe, sie auseinanderzuhalten. Kette am Fuß, verfilzte Haare, zu Schlitzen verengte Augen mit einem wahnsinnigen Glanz, wenn ich denn überhaupt mal ein Gesicht zu sehen bekomme.
Das sind sie also, denke ich. Pheen.
Ich laufe weiter, mein Gesicht glüht vor Scham, als hätte ich sie persönlich verraten, gefangen genommen, hinter Gitter geworfen und angekettet. Die meisten ignorieren mich völlig, nur einige wenige schauen zwischen den Haarsträhnen zu mir hoch, blecken die Zähne (ich weiche zurück, in einem Anfall von feiger Dankbarkeit, dass zwischen uns das Gitter ist), eine packt die Stäbe mit ihren gekrümmten grauen Fingern. Sie schreit wie ein wildes Tier, und während mein Herz in meine nicht vorhandene Hose rutscht, finde ich noch die Zeit, um mich zu wundern, warum sie eigentlich nicht mich direkt anschaut, sondern leicht an mir vorbei.
Das Kind ist wieder irgendwo vorn verschwunden und ich habe keine Lust, es zu suchen. Ich laufe rasch zurück, doch die Gänge verzweigen und winden sich, der Boden wankt unter meinen Füßen, vielleicht bin ich es auch selbst, die schwankt. Panisch stelle ich fest, dass ich mich verlaufen habe. Ich beginne, mich im Kreis zu drehen, schaue jetzt aufmerksamer in die Zellen, versuche festzustellen, wodurch diese Frauen sich nun genau voneinander unterscheiden, um meinen Rückweg an ihnen zu orientieren. Jede Frau hier muss einmal ein eigenes Gesicht gehabt haben und eine eigene Geschichte. Am liebsten würde ich mich abwenden und wegrennen, aber ich bin jetzt eine von ihnen, also zwinge ich mich, genau hinzusehen. So weiß ich wenigstens, was mich erwartet.
Ich wandere weiter, den Haufen undefinierbarer Auswürfe ausweichend, spähe in die Gesichter und bleibe plötzlich abrupt stehen. In einer der Zellen liegt eine Frau auf der Seite, ihr Haar ist kürzer als das der anderen und zurückgeworfen, sodass ich ihre Gesichtszüge genau erkennen kann. Das kann nicht sein, denke ich, während es mir die Kehle zusammenschnürt. Das kann einfach nicht sein, dass diese Frau das Gesicht meiner Großmutter Ingrid hat.
Es ist nicht Ingrids heutiges Gesicht, wie ich es zuletzt gesehen hatte – verbittert, verbissen, mit tiefen Falten um den Mund. Es ist auch nicht das Gesicht der Ingrid aus meiner Kindheit – verkrampft, bemüht, nach der jüngsten Kosmetikbehandlung schimmernd und nach einer neuen Creme duftend. Es ist das Gesicht einer jungen Ingrid, wie ich sie bei ihr zu Hause gerade erst auf dem alten Foto gesehen habe, ebenmäßige Nase, Kassies
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