Spiegelriss
trotziges Kinn, die einen Tick zu breite Stirn. Die Frau mit den Zügen meiner Großmutter ist vermutlich bewusstlos, ihr Mund steht offen und alles in ihrem so vertrauten Gesicht drückt hilfloses Erstaunen aus.
Hat Ingrid eine Zwillingsschwester oder eine Doppelgängerin? Nein. Ist sie eine Phee? Um Gottes willen.
Und dann trifft es mich wie ein Schlag. Die Frau, die ich wider besseres Wissen meine Großmutter nenne, ist normal von Kopf bis Fuß. Dafür könnte ich meine Hand ins Feuer legen. Und es liegt nahe, dass auch die anderen Frauen, die hier eingesperrt sind, gar keine Pheen sind. Es sind geschundene, wegen der schrecklichen Bedingungen wahnsinnig gewordene Kreaturen – sie haben nichts von dem, was eine Phee ausmachen soll. Auch sie sind normal. Genauer gesagt sind sie das, was man später normal nennen wird.
Ich versuche, das Alter der jungen Ingrid einzuschätzen. Trotz des Leids, das ihr ins Gesicht geschrieben steht, scheint sie kaum älter als ich jetzt. Wenn diese Frau wirklich meine Großmutter sein soll, dann bin ich gerade durch das Dementio vor über fünfzig Jahren unterwegs. Und es ist gar keine Anstalt zur Besserung der Pheen.
Ich will raus aus diesem Wahn, schüttele wütend den Kopf – keiner achtet auf mich, ich bin ja nur eine träumende Zeitreisende – schlage mit den Fäusten auf die Wände ein – auch das kümmert keinen, denn hier bin ich unsichtbar, eine Zuschauerin, die nur gucken und nichts ändern kann. Dann schließe ich ganz fest die Augen, konzentriere mich und zwicke mich mit aller Kraft, die ich noch habe, in den Oberarm.
Es funktioniert, wie es immer funktioniert hat, wenn ich aus einem Albtraum zurück in die Wirklichkeit wollte. Die Lichter gehen aus, der Lärm verstummt sofort und ich bin wieder in meiner Zelle, mit verbundenen Augen, auf dem Boden, von dem ich inzwischen sicher bin, dass er extra mit etwas Rutschigem eingeschmiert wurde.
Ich warte auf die nächste Befragung, denn die erste, wie ich es mir eingestehen muss, war etwas dürftig. Dafür haben sie mich sicher nicht hergebracht. Ich habe immer noch keinen Bissen zu essen bekommen. Da mir so kalt ist, habe ich bislang noch keinen Durst gespürt. Das beginnt sich jetzt langsam zu ändern. Meine Kehle wird trocken und die Zunge klebt sandig am Gaumen.
Ich kann genau hören, dass immer wieder jemand kommt und vor meiner Gittertür stehen bleibt. Meist sind es Wachleute, die ich an den schweren Stiefeln und den dumpf gegen die Hüfte schlagenden Sprühdosenhaltern erkenne. Ab und zu kommt auch jemand, dessen Schuhe leichter klingen und der einen anderen Geruch verströmt, eine Spur Orange mit Tabak. Ich höre das Kritzeln der Stifte. Höre mehrfaches Klicken und weiß, dass ich fotografiert werde. Am Anfang hatte ich mich abgewandt, jetzt sitze ich mit dem Gesicht zu ihnen, ich kann mich hier sowieso nicht verstecken.
Dann halte ich es nicht mehr aus.
»Durst«, flüstere ich in Richtung des Gitters und zeige auf meinen Mund. »Ich habe so schrecklichen Durst.« Der, der sich auf der anderen Seite des Gitters befindet, rührt sich jetzt gar nicht mehr.
»Bitte«, sage ich.
Dann entfernen sich die Stiefel ganz schnell. Ich warte, dass mir irgendjemand etwas zu essen oder zu trinken bringt. Vergeblich.
Und dann höre ich es wieder. Die Schritte zum Gitter, zaghafter als alle anderen. Ich erkenne es sofort, ohne jeden Zweifel. Da ist es, das sechste, rasende Herz aus der Befragung. Diesmal ist keine Scheibe zwischen uns und ich atme tief ein, fülle meine Lungen mit dem Duft, der mich verzweifelt und bei all dem, was hier drin passiert, auch ein wenig glücklich macht. Ich weiß endlich, wer das ist.
Und ich werde es vorerst für mich behalten.
Ich drehe mein Gesicht zum Gitter.
»Durst«, krächze ich jämmerlich. Ich muss dabei nicht einmal meine Stimme verstellen. Das Schlucken tut mir weh und beim Sprechen streift mein eigener heißer Atem unangenehm meine aufgesprungenen Lippen.
Der Mensch am Gitter atmet langsam aus.
Hab keine Angst, will ich sagen. Brauchst du wirklich nicht. Aber du wirst es mir nicht glauben. Dann hab von mir aus eben Angst, aber hilf mir. Hilf mir, hier rauszukommen. Oder gib mir wenigstens etwas zu trinken.
Er steht da, seine Finger berühren das Gitter, riskiert er viel, wenn er mir ein wenig hilft?
»Bitte.« Ich wende mein Gesicht genau in seine Richtung, er soll sich ja nicht der Illusion hingeben, dass ich nichts von seiner Anwesenheit weiß.
Seine Finger lassen
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