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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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verschärft, dass ich das Halsbonbon rieche, das einer der Wachen vor einem Monat in der Tasche gehabt hat, treibt mich direkt darauf zu, ich strecke die Arme aus, tunke die Finger hinein – ein Löffel steht mir nicht zu. Seit ich mich einmal verbrüht habe, bin ich vorsichtiger und probiere mit einer Fingerkuppe. Das Essen ist mal kochend heiß, mal halb gefroren. Mein Hunger ist zu schlimm, um zu warten, ich stürze mich darauf, befördere den zähen, geschmacklosen Brei in meinen Mund, sammel die letzten Krümel auf, lecke mir die Finger ab.
    Wenn sie ein Tier aus mir machen wollen – rein optisch ist es sicher kein großer Unterschied mehr.
    Und öfter, als ich es hoffen kann, kommt der, den ich für mich »das sechste Herz« nenne. Bringt mir frisches Wasser, Süßigkeiten und streichelt mein Haar. Er müsste es nicht tun, im Gegenteil, er riskiert sicher viel. Also bedeute ich ihm doch etwas. Ich bitte ihn nicht mehr, mir zu helfen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass er es tun wird, sobald er eine Chance sieht.
    Sie fragen nach meiner Mutter. Die Samtstimme, die nach der zweiten Sitzung viel von ihrer Sanftheit verloren hat, stellt mir Fragen, auf die ich auch gern eine Antwort hätte.
    »Wo ist sie jetzt?«
    »Im Wald.«
    »Wie kommt man dahin?«
    »Durch die Quadren. Aber die sind jetzt verbrannt.«
    »Und wie sonst?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du bist dort gewesen?«
    »Natürlich bin ich dort gewesen«, brülle ich.
    »Warum bist du zurückgekehrt?«
    Das ist eine Frage, die mir den Atem verschlägt. Ich will mit ihnen darüber nicht reden. Ich schäme mich in Grund und Boden. Ich habe schon vor meinen Gedanken Angst, geschweige denn davor, Dinge auszusprechen.
    Ich versuche es mit einer Gegenfrage.
    »Ist das wahr, dass im Dementio vor über fünfzig Jahren ganz normale Frauen zusammengepfercht wurden?«
    Es wird still. Die Wachen, von denen nach meiner Schätzung mindestens ein halbes Dutzend in meiner Nähe steht, um mich bei der geringsten Regung, die den Befragern gefährlich werden kann, auf den Boden zu drücken, die sich längst daran gewöhnt haben, dass die Fragestunde kein so spannendes Ding – wie am Anfang gedacht – ist, sondern eine sehr zähe und unergiebige Angelegenheit, hören auf, Kaugummi zu kauen. Das begrüße ich, denn ihr Schmatzen ist für mich ohrenbetäubend.
    »Juliane«, sagt die Samtstimme. »Wie wir wissen, waren deine Noten auf dem Lyzeum nicht so schlecht. Denk an den Unterricht der Staatskunde zurück.«
    Ich will mir eine pampige Antwort überlegen, aber dann bringe ich kein Wort raus, weil der Gedanke in der Tat frappierend ist. Außerdem muss ich gar nicht so weit zurückdenken.
    In wenigen Jahren feiern wir das fünfzigste Jubiläum der Normalität, in welcher Klasse war ich, als wir das gelernt haben? Sechste? Siebte? Es war eine langweilige, förmliche Angelegenheit, die mich nicht sehr interessiert hat.
    Die Normalität ist gerade mal fünfzig Jahre alt.
    Und was war davor? Es war die Jugend von Ingrid und Reto. Sie können folglich nicht als Normale geboren und aufgewachsen sein.
    »Ich weiß, dass hier vor fünfzig Jahren Frauen eingesperrt waren, die keine Pheen waren«, formuliere ich um.
    Einer der Wachen verschiebt den Kaugummi von einer Backe zur anderen. Ich höre seinen Speichel blubbern.
    »Woher weißt du das?«, fragt die heisere Stimme plötzlich, bei deren Klang alle anderen leiser werden. »Was macht dich so sicher, dass es keine Pheen waren?«
    »Weil…« Ich stocke. Sie fragen mich nicht danach, woher ich weiß, dass diese Anstalt vor fünfzig Jahren überhaupt schon existiert hat. Sie fragen mich in der Tat, worin sich eine normale Frau von einer Phee unterscheidet.
    Es ist genau die Frage, die mich die ganze Zeit beschäftigt, seit meine Mutter plötzlich verschwunden und meine Kindheit mit all ihren Überlängen sehr abrupt zu Ende gegangen ist. Und ich bin seitdem der Antwort nicht wirklich viel näher gekommen.
    »Man sieht es«, sage ich schließlich.
    »Du siehst es vielleicht«, sagt die heisere Stimme. »Wir sehen das nicht. Wenn wir einer ungekämmten, widerspenstigen, wilden Frau begegnen, müssen wir als Erstes annehmen, dass sie eine Phee ist. Selbst bei dir, die wir vor uns haben, können wir es nicht mit letzter Sicherheit sagen. Das seltsame Verhalten und die erbliche Belastung sind nur zwei Faktoren von vielen. Den endgültigen Beweis, dass eine Frau keine Phee ist, bekommen wir nur auf eine einzige Weise. Auch bei

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