Spiegelriss
das Gitter los und seine Schritte entfernen sich.
Dann hau doch ab, denke ich. Verräter, Feigling, ich hasse dich.
Obwohl es nicht wahr ist.
Am liebsten würde ich es herausschreien. Aber dann bin ich doch froh, es nicht getan zu haben. Denn er kommt zurück. Ich höre das Gluckern des Wassers in einer Plastikflasche. Ich höre genau, durch welche Gittermaschen er den Flaschenhals durchsteckt. Mit geöffnetem Mund knie ich mich davor. Das Wasser läuft über mein Gesicht, ich fange es gierig mit dem Mund auf, schlucke, verschlucke mich, die Flasche leert sich viel zu schnell und ich stöhne auf, als das Wasser versiegt.
Noch mehr, denke ich, spreche diese Bitte aber nicht aus, man darf schließlich nicht undankbar sein. Ein Knistern und ein Duft, mit dem ich nicht gerechnet habe, lassen mich zusammenfahren und dann berühren seine Finger durch das Gitter meine Lippen und legen abgebrochene Stücke eines Energieriegels in meinen Mund. Der süßsaure Geschmack, einst so vertraut und inzwischen wieder vergessen, breitet sich auf meiner Zunge aus.
Ich kaue gierig und sperre immer wieder den Mund auf, wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Küken. Der Energieriegel hält, was er verspricht, er gibt mir nicht nur ein wenig Kraft, sondern auch einen Hauch Hoffnung zurück. Als ich alles aufgegessen habe, nicht mal ein Krümel übrig zu sein scheint, berühre ich mit der Stirn stumm die Hand, die mir Wasser und Essen gebracht hat. Ein Danke spare ich mir.
Und sobald ich wieder allein bin, die Schritte immer leiser werden, spüre ich schmerzhaft die Leere um mich herum.
Er kommt sicher nicht wieder. Dann war es auch falsch von ihm, mir Hoffnung zu geben.
Es kommt mir so vor, als würde ich überhaupt nicht mehr schlafen. Entweder bin ich wach, dann halten mich meine überreizten Sinne in ständiger Alarmbereitschaft. Sobald ich wegdämmere, kommt das Kind und lässt mir keine Ruhe. Es spricht immer noch nicht, verhält sich aber inzwischen sehr vertraut zu mir, lächelt mich an, zieht mich an der Hand, zupft mich am Nachthemd, wenn ich zu langsam bin oder in die aus seiner Sicht falsche Richtung laufen will.
Ich nenne es in Gedanken mein persönliches Gespenst. Es führt mich durch das Dementio der vergangenen Zeit und zeigt mir Sachen, die ich eigentlich gar nicht sehen will. Es erzählt nichts von sich, fragt nur manchmal nach Mama. Was soll ich ihm antworten? Obwohl es halb so groß ist wie ich, fühle ich mich kein bisschen klüger.
Ich kann nicht behaupten, dass ich scharf auf diese Spaziergänge bin. Auch wenn ich inzwischen weiß, dass mir dabei nichts passieren kann. Egal, welches Elend mir begegnet – ich bin bloß Zuschauerin. Einmischen kann ich mich auch nicht – einmal versuchte ich dazwischenzugehen, als einer der Wachen eine Frau an den Haaren aus ihrer Zelle zog. Meine Hände griffen ins Leere und der Wächter würdigte mich keines Blickes.
Eigentlich, denke ich, würde ich lieber in meiner Zelle bleiben. Oder, wenn ich schon träume, woandershin reisen. Irgendwohin, wo ich etwas Schönes erlebe, auftanken kann, meinetwegen auch einfach ausschlafen.
Zum Beispiel in den Wald. Oder in das, was von ihm übrig geblieben ist.
Ich winke das Kind zu mir heran, locke es auf meinen Schoß. Manchmal kuschelt es sich an, legt den Kopf auf meine Schulter. Seine Stirn ist verschwitzt, die nassen Locken kleben darauf. Die Verbände sind grau und schwer und riechen nicht gut. Wenn ich mit den Händen darüberfahre, jammert das Kind.
Es bleibt nie lange sitzen, immer steht es schon nach kurzer Zeit auf, greift meine Hand, zieht mich weiter.
Und so habe ich nie meine Ruhe – nicht im Traum, wenn ich das Dementio durchstreife, und nicht im Wachsein, wenn ich geblendet in der Zelle kauere oder mal wieder einer Befragung unterzogen werde.
Die Befragungen häufen sich jetzt. Ich habe jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Keine Ahnung, ob Tage oder Monate vergangen sind – oder Jahre, die ich im Schlaf durchstreife. An der Anzahl der Mahlzeiten kann ich es auch nicht ablesen, ich weiß nur, dass mein Magen sich vor Leere schmerzhaft zusammenzieht, wenn einer der Wachen mit dem typischen Geräusch einen Metallnapf auf dem Boden meiner Zelle abstellt.
Sie machen sich jedes Mal einen Spaß und stellen den Napf immer woandershin, um zu sehen, wie ich danach suche. Und vielleicht sollte ich ihnen auch den Gefallen tun und lange in der falschen Ecke herumtapsen, aber der Hunger, der meinen Geruchssinn so
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