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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Jetzt stehe ich auf der Straße.
    Mir ist schwindlig, wie früher, als ich klein war und Karussell fahren musste – eher gesagt, musste, weil mein Vater der Meinung war, dass es allen Kindern Spaß macht. Die Erinnerung kommt mit voller Wucht zurück: wie ich kreischend aus dem Sitz geholt werde, Dr. Rudolf Rettemis vorwurfsvolles Gesicht – immerhin hatten sie meinetwegen das Karussell anhalten müssen, weil ich so unmöglich bin. Ich heule auf seinem Arm, und weil sich nach wie vor noch alles vor meinen Augen dreht, mache ich sie zu und kralle mich an der Schulter meines Vaters fest. Erst meine Mutter zu Hause schafft es, mich dazu zu bringen, die Augen wieder zu öffnen. Ich bin fest überzeugt, dass das wilde Drehen mich irgendwo andershin versetzt hat, an einen Ort, vor dem ich Angst habe. Das Gesicht meiner Mutter hält mich in der freundlichen, geborgenen Wirklichkeit fest – und ich muss heute, meine Fußspuren in der Asche hinterlassend, mir eingestehen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte. Jedenfalls der Teil, an den ich mich erinnern kann.
    Genau das gleiche Gefühl habe ich jetzt. Das Karussell hat sich gedreht. Ich bin nicht mehr dort, wo ich eben noch war. Und das Gesicht meiner Mutter ist weit weg. Ich bin kein Kleinkind mehr, ich muss meine Augen öffnen und mit dem zurechtkommen, was ich vorgefunden habe.
    Ich gehe durch die Straße, die ich nicht kenne, weil ich nie in diesem Teil der Stadt gewesen bin. Das ausgebrannte Stadion liegt hinter mir und ich weiß, ich werde mich nie wieder danach umdrehen, als hätte ich Angst, dass eine letzte Flamme noch auf mich übergreift.
    Es ist kein Wohnviertel. Die mehrstöckigen mintgrünen Häuser reihen sich aneinander, an den Fenstern hängen keine Vorhänge, auf den Fensterbrettern sind keine Topfpflanzen zu sehen. Das Licht in den Räumen hat einen Grünstich. Behörden, denke ich. Kleinere Verwaltungseinheiten, die sich um alles kümmern, die Längen der zugelassenen Bleistifte, die Krümmung der Gurken, das Zurechtstutzen der Seelen der Bürger. In diesen Häusern, schlicht wie Schuhkartons, sitzt die eigentliche Normalität, nicht etwa in den verspiegelten Türmen des Zentrums.
    Ich ziehe an den Häusern vorbei, die durchnummeriert sind, nehme hier und da versengte schwarze Flecken an den Wänden wahr. Welche Flammen haben sich hierherverirrt, in diese ansonsten unversehrt wirkende Straße? Ich lüge mich selber an, wenn ich behaupte, es nicht zu ahnen.
    Ich trete auf einen angesengten Kapuzenpullover, den jemand wahrscheinlich während der Flucht aus dem brennenden Stadion hastig ausgezogen hat, und streife ihn über mein Nachthemd. Sie haben mich umbringen wollen, aber ich scheine noch zu leben. Und diese Welt scheint ebenso heil zu sein. Das beruhigt mich, obwohl mir eigentlich nichts mehr am Erhalt dieser Welt liegen müsste. Schließlich ist meine Familie im Wald.
    Aber es gibt ja noch Ksü.
    Und Ivan.
    Ich gehe an Laternen vorbei, die bereits eingeschaltet sind, obwohl es eigentlich noch hell ist. Passiere rechteckige Blumenbeete, alle identisch bepflanzt in den Farben des Regenbogens, nur ohne die beiden letzten Farben – Dunkelblau und Violett. Ich versuche, die Uhrzeit zu erraten, aber der Himmel ist düster wie vor einem Gewitter, andererseits strömen noch keine Menschenmengen aus diesen Behörden. Wenn sie alle gleichzeitig Feierabend haben, möchte ich nicht mehr hier sein. Ich zerre mir die Kapuze ins Gesicht.
    Dann entdecke ich den Zeitungskasten an der Ecke. Meine Zeit im Rudel hat mich gelehrt hinzuschauen – manchmal steht auf dem Titelblatt, was die Leute in der Stadt bewegt, manchmal genau das Gegenteil.
    Diesmal ist es mein eigenes Gesicht. Ich will mich zuerst abwenden, komme dann aber doch näher.
    So muss ich also ausgesehen haben auf dem Scheiterhaufen, denke ich fast gleichgültig. Mein zweiter Gedanke ist, dass ich kein Geld habe, mit dem ich mir eine Zeitung rausholen könnte. Der nächste ist, dass es jetzt keine Rolle mehr spielt. Gebannt starre ich auf das gefesselte Mädchen, das mit kalkweißem Gesicht den Fotografen anblickt. Links am Bildrand steht der Mann mit dem Streichholz. Merkwürdigerweise schauen wir in die gleiche Richtung.
    Ich reibe mir die Augen. Auf diesem Foto haben wir, der Mann und ich, auch noch die gleichen Gesichtszüge. Dieser Mann ist mir ähnlicher als jeder andere, dem ich je begegnet bin. Oder ist es nur die Perspektive dieser Aufnahme?
    Ich schlage mit der Faust gegen die Scheibe und

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