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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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sie springt sofort auf. Ich zerre eine Zeitung heraus und halte sie mit ausgestrecktem Arm von mir weg, weil ich das Gefühl habe, dass die riesigen Buchstaben mich anspringen.
    »Die Gefahr ist gebannt – die Phee ist tot.«
    Ich rolle die Zeitung zusammen, schiebe sie in meinen Ärmel und renne zurück.
    Ich hatte mir vorgenommen, mich nie wieder nach dem Stadion umzudrehen, in dem meine einstige Gesellschaft meine Verbrennung feiern wollte. Stattdessen irre ich jetzt herum und kann es nicht finden. Wie kann ein riesiges Stadion verloren gehen? Wie lange war ich unterwegs gewesen? Verzweifelt sehe ich mich um, aber die bandwurmlangen Hausnummern sagen mir nichts.
    Ich setze mich erschöpft auf einen Bordstein, als ein Gong ertönt. Von allen Seiten kommt ein Rasseln, wie ich es so noch nie gehört habe. Fasziniert sehe ich, wie die unzähligen Rollläden gleichzeitig herunterfahren. Ich springe auf, als mir die Bedeutung dieses Vorgangs klar wird.
    Feierabend. Ich habe es nicht geschafft, hier rechtzeitig wegzukommen.
    Eine Minute später strömen sie auf die Straße, Menschen, die auf mich völlig identisch wirken, in schwarzen Bürohosen und weißen Hemden, mit Aktentaschen unter den Armen, so eine hatte mein Vater auch einmal gehabt. Schnatternd füllen sie die Straßen und ich drücke mich gegen die Laterne. Die Zeit im Rudel sitzt mir noch in den Knochen. Ich habe es verinnerlicht, dass jemand in meiner Aufmachung in einer Gegend wie dieser nichts zu suchen hat.
    Sie ziehen an mir vorbei. Ich würde mich am liebsten unsichtbar machen, während ihre Augen mich streifen, immer wieder an mir hängen bleiben. Ich zerre mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und kauere mich hin in der Hoffnung, diesen Menschenstrom in der Hocke zu überstehen.
    Jemand tippt mir auf die Schulter und ich fahre zusammen. Ich springe auf. Vor mir steht eine Frau mittleren Alters, die ein rundes, freundliches Gesicht hat. Die schwarze Hose und das weiße Hemd schmeicheln nicht gerade ihrer kräftigen Figur, aber ich darf sie nicht anstarren, ich muss mich abwenden und schon wieder mein Gesicht verstecken.
    »Wo gehörst du hin?«, fragt sie.
    »Helena, komm zurück«, rufen mehrere Stimmen aus der Menge.
    »Gleich!«, antwortet sie.
    »Ich suche das Stadion«, bringe ich mühsam hervor.
    »Nein«, sie schüttelt den Kopf und senkt den Blick auf meine aschegesprenkelten Füße. »Das suchst du nicht. Das gibt’s nicht mehr. Wo ist dein Zuhause?«
    »Ich habe dort jemanden… vergessen!«, rufe ich aus. »Bitte, sagen Sie mir, wo das ist.«
    »Das ist verbrannt«, sagt sie sanft. »Soll ich deine Eltern anrufen?«
    »Ich glaube, mein Vater ist dortgeblieben«, flüstere ich. »Ich muss dahin zurück.«
    »Dann rufe ich die Polizei«, sagt sie und ihre Hand rutscht in die Tasche ihrer schwarzen Hose. »Sie werden sich um dich kümmern.«
    »Nein!« Ich trete einen Schritt zurück, falle fast vom Bordstein auf die Straße. »Auf keinen Fall.«
    »Du bist verwirrt. Das Feuer hat dich zu sehr erschreckt. Es gibt Experten, die dir helfen werden…«
    »Keine Experten!«, brülle ich. »Bitte, einfach die Richtung.«
    Für einen Moment passe ich nicht gut auf und die Kapuze rutscht zurück. Ihr Blick bleibt an meinem Gesicht hängen und ihr Mund öffnet sich.
    »Wo?«, wiederhole ich.
    Sie tritt einen Schritt zurück, und bevor der Strom der Büromenschen sie wieder verschluckt, hebt sie die Hand an und weist in eine Richtung.
    Ich schleppe mich den Weg entlang, zu ermüdet davon, die sich häufenden Brandflecken an den Wänden zu zählen. Das Stadion erscheint plötzlich, als hätte jemand einen Vorhang beiseitegeschoben, erschlägt mich nicht nur visuell, sondern auch akustisch. Es ist nicht das Stadion, das ich zurückgelassen hatte, leer, verlassen, zerstört. Ausgebrannt ist es zwar immer noch, schwarz ragen die Flutlichtmasten in den Himmel, steigt der Rauch in die Höhe. Aber davor wimmelt es: Gestalten, die aus der Entfernung klein wie Ameisen erscheinen, sich dann als schwarz gekleidete Experten herausstellen. Das Stadion ist abgesperrt, mintgrüne Flatterbänder und »Gefahr«-Schilder warnen davor, näher zu kommen. Silbern glänzende Drähte umspinnen den oberen Teil, dichten die Spuren der Zerstörung wie ein Spinnennetz ab.
    Ich laufe auf den Haupteingang zu, obwohl mir eine innere Stimme empfiehlt, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Aber ich denke an den Mann, der dadrin verbrannt ist und dessen Gesicht ich geerbt zu haben

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