Spiegelriss
glaube. Die Zeitung als Beweis steckt immer noch unter meinem Hemd. Im Vorbeilaufen streife ich mit der Hand einen verkohlten verbogenen Metallgegenstand, der einmal ein Briefkasten gewesen sein könnte. Meine Handfläche färbt sich sofort schwarz und ich schmiere den Ruß in mein Gesicht.
Am Flatterband entlang sind Polizisten postiert. Ich steuere auf den zu, der noch besonders jung aussieht, kaum älter als ich. Er hat mich schon entdeckt und sieht mir erwartungsvoll entgegen. Seine Hand legt sich schon mal auf die Sprühdose an seinem Gürtel.
Was soll ich jetzt tun? Ihn bitten, mich durchzulassen? Fast lache ich über meinen eigenen Witz.
Er beginnt, mir zu winken, als ich näher komme. Sein Kollege holt sein Funkgerät heraus. In diesem Moment trete ich auf etwas Kaltes, Glattes, bücke mich und hebe es auf. Es ist ein ID-Armband, glänzend, mit unversehrtem Verschluss. Jemand, der es geschafft hat zu fliehen, muss es fallen gelassen haben.
Als ob man ein Armband einfach so verlieren kann.
Das Auge der Sprühdose schaut jetzt auf mich. Ich halte die Luft an und winke mit dem Armband.
»Hab ich verloren!«, rufe ich und die Heiterkeit in meiner Stimme lässt mich vor mir selber ekeln.
Die Hand mit der Sprühdose sinkt wieder.
Ich schließe das Armband um mein Handgelenk und trete feige den Rückzug an.
Ins Zentrum
Ich hatte schon ganz vergessen, wie sich das Armband anfühlt, wenn es erst kühl, dann von der Haut aufgewärmt hoch und runter rutscht und sich im Ärmel verfängt. Ich versuche, es zu ignorieren, bevor mich noch das Selbstmitleid überflutet. Ich schiebe auch den Gedanken an den Mann beiseite, den ich liegen gelassen hatte. Ich habe keine Ahnung, wie viel ich da verloren habe. Er wusste, dass ich nicht würde zurückkehren können, wird mir klar. Er hat mich selbst fortgeschickt.
Und ich? Wohin soll ich jetzt gehen? Ins Zentrum, denke ich. Ich muss versuchen, mich zu orientieren. Ich reibe mit dem Ärmel wieder etwas Dreck aus meinem Gesicht, weil er sich mit dem Schweiß vermischt und zu jucken beginnt.
Es gibt nur noch eins, was mir geblieben ist, und danach will ich suchen. Ich habe die hervortretende gespaltene Zunge vor Augen, die schuppigen, schweren Lider. Ich war so dumm gewesen, davor zurückzuschrecken. Ich hätte mit ihr reden, sie in den Arm nehmen sollen, so wie sie mir um den Hals gefallen ist. Ich hätte sie nicht einfach dort ihrem Schicksal überlassen sollen.
Was spielt es für eine Rolle, wie sie aussieht?
Es ist ein weiter Weg aus den Behördenstraßen ins Zentrum. Zum Glück ist es hier komplett menschenleer. Es ist ein Bezirk, in dem nur tagsüber Leben ist. Das ist mir mehr als recht.
Die Bürotürme des Zentrums scheinen kaum näher zu rücken. Meine Waden sind verkrampft und ich spüre meine Füße nicht mehr. Trotzdem setze ich meinen Marsch fort, während ich mit der Hand an dem Armband herumspiele.
Ich fühle mich so sicher in meinem Alleinsein, dass ich zusammenzucke, als ich das Geräusch eines Motors höre. Ein Auto nähert sich. Um diese Zeit? Mein erster Impuls ist, mich irgendwo zu verstecken.
Dann denke ich, dass es besser ist, stehen zu bleiben. Ich trage ein Armband, und den übrigen Begegnungen nach zu urteilen, wäre ich nicht die erste Normale, die nach der Katastrophe im Stadion es geschafft hat zu fliehen und danach orientierungslos in der Gegend herumirrt. Das ist eine Geschichte, an die ich mich halten muss, auch wenn es mich anwidert. Ich muss an Ksü denken.
Und Ivan.
Und wenn der Fahrer des Autos mir trotzdem etwas antut?
Ich beiße die Zähne zusammen. Es ist nicht mehr so leicht, mir etwas anzutun. Ich brauche keine Angst zu haben. Sollen die anderen Angst vor mir haben.
Das Auto biegt um die Ecke. Überrascht stelle ich fest, dass es eine ziemlich schicke Limousine ist, ein der Form nach ziemlich aktuelles Modell. Die Farbe lässt sich unter der Staubschicht allerdings nur erahnen.
Aber die Farbe interessiert mich nicht. Ich fixiere den Fahrer. Er ist allein.
Es ist eine Fahrerin und ich traue meinen Augen nicht. Es ist ein Mädchen, sie kann nicht viel älter als ich sein.
Ich renne auf die Straße, dem Auto hinterher, während ich wild winke und »Halt! Halt!« brülle.
Sie muss mich gesehen haben. Und sie drückt aufs Gaspedal. Das Auto beschleunigt und braust davon und ich sehe ihm hinterher, bis alles vor meinen Augen verschwimmt.
Ich will mich kurz ausruhen und dann den Weg zu Fuß fortsetzen, als ich wieder das
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