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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Geräusch höre. Es sind derselbe Motor und derselbe Wagen wie vorhin. Ich stehe immer noch mitten auf der Straße. Das Auto bremst ab und bleibt direkt vor mir stehen. Das Fenster fährt herunter und ein gequältes Gesicht, umrahmt von versengten Haaren, guckt heraus.
    »Wer bist du?«, fragen wir gleichzeitig. Dann verstummen wir beide und ich fange als Erste wieder an zu reden.
    »Ich will ins Zentrum«, sage ich.
    »Ich will da raus«, sagt sie. »Wo kommst du her?«
    »Vom Stadion«, sage ich.
    »Du hast das Feuer überlebt?«
    Ich nicke.
    »Setz dich.« Sie entriegelt die Beifahrertür und ich lasse mich auf den Sitz neben ihr fallen. Einen Autositz unter mir zu spüren, ist ein Gefühl aus einem anderen Leben. Ich koste es voll aus – meine Beine zittern vor Müdigkeit und mein Kreuz schmerzt, als wäre ich schon mindestens hundert Jahre alt.
    »Wie hast du es geschafft?«, fragt sie und sieht mich an. Während ich mit den Schultern zucke, wendet sie das Auto und drückt wieder aufs Gas. Wir rasen in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
    »Halt!«, rufe ich und sie tritt abrupt auf die Bremse.
    »Ich will ins Zentrum«, wiederhole ich.
    »Vergiss das Zentrum«, sagt sie.
    »Wieso?«
    Sie winkt ab. Ich schaue sie verstohlen von der Seite an, plötzlich dreht sie sich wieder zu mir und unsere Blicke treffen sich. »Du kommst mir so bekannt vor«, sagt sie.
    Am liebsten würde ich mir jetzt die Hand vors Gesicht halten. Aber ich muss ganz ruhig tun, als wüsste ich nicht, was sie meint. Denn ich weiß jetzt auch, wer sie ist, ich darf es mir bloß nicht anmerken lassen.
    »Wie heißt du?«, frage ich vorsichtshalber.
    »Appolonia«, sagt sie förmlich und pustet sich die Haare aus dem Gesicht.
    Himmel, ich bin nicht die Einzige, die sich verändert hat. Sie trägt eine Arbeitshose und eine khakifarbene Jacke mit vielen Taschen, die ihr viel zu groß ist. Ihre Haare sind zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, versengte Strähnen hängen ihr ins Gesicht. Die Haut sieht aus, als wäre sie mit einer Schicht Staub bedeckt. Trotzdem kann man darunter frische und ältere Kratzer erkennen. Sie kneift die Augen zusammen und auf der Stirn liegen tiefe Querfalten, vor denen sie sich einst, ebenso wie meine ehemalige Großmutter Ingrid, so gefürchtet hat. Auch die Hände, mit denen sie sich am Lenkrad festkrallt, sind fleckig und zerkratzt, die Fingernägel sind abgebrochen. Ich schiele auf ihr Handgelenk, ihr Armband scheint nicht da zu sein.
    »Und du?«, fragt sie.
    Ich schweige einen Augenblick länger als erlaubt. Ich bin auf die einfachste aller Fragen nicht vorbereitet. Aber sie scheint sich nicht sonderlich dafür zu interessieren.
    »Was willst du im Zentrum?«
    »Von dort aus versuche ich, meine Freundin zu finden«, antworte ich ehrlich.
    »Wo willst du suchen?«
    »Keine Ahnung«, sage ich. »Ich gehe erst mal nach Hause… Und dann sehe ich weiter.«
    »Zu Hause: Wo soll das sein?«
    »Aneko-Straße«, sage ich den ersten Straßennamen, der mir einfällt. »Und du? Warum willst du unbedingt raus?«
    Sie dreht sich zu mir. »Weil ich Angst habe!«, schreit sie mir ins Gesicht. »Und dir rate ich ganz dringend, wenn du wirklich in die Stadt willst, dann nimm dein bescheuertes Armband ab. Verstehst du nicht, dass sie uns daran erkennen?«
    »Ich trage es gegen die Kälte«, sage ich. »Wer erkennt wen?«
    »Die Freaks natürlich«, presst sie zwischen den Zähnen hervor. »Nimm das schnell ab und schmeiß es weg. Du siehst freakig genug aus, dass sie dir nichts antun.«
    »Du auch«, sage ich.
    Sie schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt sie. »Siehst du den hier?« Sie zieht ihre Oberlippe hoch und führt mir einen winzigen Kunstbrillanten in ihrem oberen Schneidezahn vor.
    »Daran erkennt man dich?«
    Sie verdreht die Augen. »Mit so bescheuerten Fragen wirst du im Zentrum sofort am nächsten Baum aufgehängt.«
    »Von wem?«, frage ich erstaunt.
    »Von den Freaks«, schreit sie wieder.
    Ich lehne mich zurück, um die Nachricht zu verdauen.
    »Was ist jetzt?«, fragt sie. »Ich fahre raus. Wenn du unbedingt ins Zentrum willst, musst du aussteigen.«
    »Draußen gibt’s nur Wald«, sage ich.
    Plötzlich wirkt ihr Gesicht verängstigt. »Du meinst die Pheen? Ich dachte, das wäre endlich erledigt.«
    Ich sage nichts.
    Plötzlich nickt sie. »Okay, ich fahre dich ins Zentrum.«
    »Danke«, sage ich. Und frage mich still, ob ich mich bei Appolonia oder eher bei ihrer Angst vor den Pheen bedanken

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