Spiegelriss
sich nach einem Horrorszenario an. Ich will es nicht glauben.
Aber warum sollte sie lügen, meine frühere Lyzeumskollegin Appolonia, die neben mir im Staub liegt und weint, während sie all das erzählt? Ich bin von ihrem Bauch herabgestiegen und habe mich neben sie gesetzt. Sie hat sich nicht gerührt, nur weitererzählt, zwischendrin ist ihre Stimme so leise geworden, dass ich nah an sie heranrücken musste, um überhaupt ein Wort zu verstehen. Einst hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sie überhaupt weinen kann. Ein normales Mädchen hat keinen Grund für Tränen.
Ich habe das Gefühl, irgendwas tun zu müssen, ihre Hand zu nehmen oder ihr wenigstens ein paar tröstende Dinge zu sagen, aber ich habe keine Worte. Was soll man da auch sagen? Also sitze ich einfach neben ihr, das Kinn auf die Hände gestützt, versuche, nicht an meinen immer stärker werdenden Durst zu denken, und schweige.
Plötzlich steht sie auf und geht mit gesenktem Kopf zum Auto. Ich sehe ihr hinterher. Sie öffnet die Fahrertür und dreht sich zu mir. »Was ist? Kommst du jetzt mit oder nicht?«
»Wohin?«
»Ich bring dich ins Zentrum«, sagt sie. »Ist doch egal, ob mich dort die Freaks aufknüpfen oder im Wald die Pheen auffressen.«
»Ich will dir keine Umstände…«, beginne ich, als hätte Appolonia mein früheres Ich herausgekitzelt. Aber bevor ich mir selber auf die Zunge beißen kann, winkt sie schon ab. »Red keinen Müll und steig endlich ein.«
Also steige ich ein und wir fahren los.
Ich hatte das Gefühl, vorbereitet zu sein auf das, was mich erwarten würde. Aber ich bin es nicht. Nicht auf die eingeschlagenen Fensterscheiben, die blutgesprenkelten Bürgersteige, nicht auf den erschreckend tief hängenden Himmel, der so aussieht, als würde er uns gleich auf den Kopf fallen. Mehrmals sehe ich Menschen auf dem Asphalt liegen, ich kann nicht sagen, ob sie verwundet sind oder bereits tot. Ich habe das Bedürfnis, mich abzuwenden, und starre doch aus weit aufgerissenen Augen um mich herum. Der Wind treibt mir Sandkörner und Aschepartikel in die Augen.
»Und ich dachte, hier kann man Medikamente holen«, murmele ich, als wir an einer geplünderten Apotheke vorbeikommen. »Hier gibt’s ja gar nichts mehr.«
»Hier gibt es immer noch alles«, sagt Appolonia voller Hass. »Aber eben nicht mehr für uns. Der Schwarzmarkt blüht. Schon länger. Als diese Juli endlich in Haft kam, hatten wir Hoffnung, dass alles wieder besser wird.«
»Was kann sie denn jetzt dafür?« Ich halte es schließlich nicht mehr aus.
»Wie kann man bloß so blöd sein wie du?«, brüllt sie wieder los.
»Ich war eben eine Weile nicht hier, verstehst du?«, schreie ich zurück.
Als wollte der Wind unsere Stimmen übertönen, dröhnt er uns jetzt um die Ohren. Ich kneife die Augen zusammen. Ein flatterndes Geräusch macht mich neugierig, ich öffne die Lider einen Spaltbreit und sehe, wie Appolonia fluchend eine regennasse Zeitung von der Windschutzscheibe zu kratzen versucht, die der Wind dadrauf geklatscht hat.
»Warte mal«, sage ich. »Kann ich die haben?«
»Hilf mir lieber, die abzumachen.«
Ich steige aus und kratze an der Windschutzscheibe herum. Ich weiß, dass Appolonia austicken wird, wenn ich sie bitte, die Zeitung möglichst heil zu lassen. Deswegen dränge ich sie mit der Schulter beiseite und sage: »Ich mach das schon.«
Sie zuckt mit den Achseln und setzt sich wieder ans Steuer. Ich achte beim Abkratzen auf meinen Gesichtsausdruck, bis ich einen Blick auf Appolonia werfe. Ihre Augen waren nur scheinbar auf mich gerichtet. In Wirklichkeit sieht sie durch mich hindurch. Ich hätte alle möglichen Grimassen schneiden können, das wäre ihr nicht aufgefallen.
Ich sammele die Papierreste auf und setze mich auf den Beifahrersitz. Dort versuche ich, sie wie ein Puzzle zusammenzufügen.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Das große Bild auf der ersten Seite ist schon wieder mein Gesicht. Blass, aufgerissene Augen, zerbissene Lippen. Im Hintergrund der Pfahl auf dem Podest, an den ich gekettet wurde.
Dazu die Überschrift: ENDLICH: Die Phee ist tot.
Apollonia wirft einen Blick auf die Seite.
»Sie soll in meinem Jahrgang auf dem Lyzeum gewesen sein«, sagt sie.
»Ach was?«, frage ich heiser.
»Ich kann mich überhaupt nicht richtig an sie erinnern. Sie war so… so unauffällig. Wenn wir bloß gewusst hätten, in welcher Gefahr wir alle damals gewesen sind!«
Ich sage nichts. Appolonia dreht den Zündschlüssel.
»Wo
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