Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
Vom Netzwerk:
darf.
    Die Fahrt dauert an. Appolonia will es vermeiden, auf dem gleichen Wege in die Stadt zurückzukehren, auf dem sie herausgekommen ist, erklärt sie. Nach dem Grund gefragt, antwortet sie knapp »Straßenpatrouille«. Ich fühle mich wieder wie damals, in meinem früheren Leben, als alle um mich herum Bescheid wussten, nur ich nicht. Diesmal bin ich nicht bereit, das hinzunehmen. Deswegen halte ich zehn Minuten Schweigen aus, das von Brummtönen unterbrochen wird, mit denen sie meine Fragen beantwortet. Dann greife ich ihr ins Lenkrad und drehe es scharf nach rechts, in Richtung Straßenrand.
    »Bist du total irre?«, schreit sie mich an.
    »Du erzählst mir sofort, was los ist«, schreie ich zurück. »Vorher lasse ich dich nicht weiterfahren.«
    »Dann verschwinde hier.« Sie versucht, mich vom Sitz zu schubsen und gleichzeitig die Tür zu öffnen, aber ich wehre mich nach Kräften.
    Ich merke, wie sie wütend wird, wie der Jähzorn sie so blendet, dass ihr Gesicht sich bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Sie springt heraus, läuft um das Auto herum, reißt die Tür auf und zerrt mich an meinem Nachthemd heraus. Ich falle um und ziehe sie mit mir runter und schon rollen wir beide über den mit Staub bedeckten Weg, mit Fäusten aufeinander eindreschend. Irgendwo tief in mir drin sitzt etwas, das sich über die Szene amüsiert: zwei einst wohlerzogene Mädchen, die sich aus nicht ganz klaren Gründen bis aufs Blut prügeln. Appolonia ist etwas kleiner als ich, aber deutlich stämmiger. Sie ist stärker, doch mit der Zeit merke ich, dass ihre Kraft nachlässt. Irgendwann ist sie außer Atem. Plötzlich hört sie auf, auf mich einzudreschen, stellt auch jegliche Verteidigung ein. Sie liegt auf dem Rücken, ich setze mich auf ihren Bauch und drücke ihre Arme mit meinen Knien gegen den Boden.
    Sie reißt die Augen auf und starrt mir ins Gesicht. Ich starre zurück.
    »Dann mach es doch«, sagt sie.
    »Was?«
    »Töte mich.« Sie schluchzt.
    »Warum sollte ich das tun? Erklär mir einfach, was im Zentrum los ist.«
    »Ich habe keine Lust, irgendwas zu erklären«, schreit sie.
    Obwohl ich sie sehr gut verstehen kann, sage ich seufzend: »Wenn du jemals hier aufstehen willst, dann musst du leider.«
    Sie schließt die Augen und ich spüre, wie ihr ganzer Körper unter mir schlaff wird. Ich bleibe sitzen, sie liegt und atmet flach, für einen Moment denke ich sogar, dass sie eingeschlafen ist. Es vergehen Minuten, irgendwann fühlt sich das an, als hätte ich den ganzen Tag lang nichts anderes getan als hier zu sitzen und sie festzuhalten. Ich will schon aufgeben und aufstehen, doch da öffnet Appolonia plötzlich ihre trockenen Lippen.
    »Alles geht kaputt«, sagt sie.
    Ich halte die Luft an, frage nicht weiter nach, um sie nicht zu verschrecken.
    Sie hält die Augen weiterhin geschlossen, als sie davon erzählt, dass der Brand im Stadion auf die Stadt übergriff – aber nicht mit Flammen. Sie erzählt von irre gewordenen Freaks und Straßenschlachten, von unzähligen Familien, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, die schon froh waren, wenn sie überhaupt fliehen konnten, denn die blutrünstigen Freaks…
    »Okay, okay«, sage ich. »Ich habe verstanden.«
    »Es ist diese Juli Rettemi«, flüstert Appolonia. »Es ist alles nur ihretwegen. Die Normalität hat sie getötet und das Feuer hat sie gerächt und jetzt ziehen die Freaks hinterher.«
    Ich zwinge mich zum Schweigen, sage kein einziges Wort. Ivans Worte hallen in meinen Ohren nach. Weißt du nicht, in welcher Zeit wir leben? Wir stehen vor einem Bürgerkrieg.
    Ich denke an die Freaks, vor denen ich als Kind Angst hatte. An mein Referat über die Resozialisierung eines Freaks, das ich im Lyzeum gehalten hatte. Wie ich erst Ksü und dann Ivan kennenlernte und mein Weltbild sich auf den Kopf stellte. Wie ich auf dem Campus gewesen war. Wie ich Professor Melchior traf.
    Freaks, den die Pheen heilig waren. Die für sie ihr Leben opferten. Die die Normalität überall ausspielten, wo sie nur konnten – sagte der Mann, den ich für meinen Vater gehalten hatte. Ich hatte schon damals nicht gewollt, dass er recht hatte. Jetzt will ich das noch weniger.
    Die Freaks mit den schönen bunten Frisuren werfen die überlebenden Normalen aus ihren Häusern? Schonen auch ihre Kinder nicht? Rauben die Geschäfte aus und lynchen alle, die ein Armband tragen? Normal zu sein, ist jetzt so gefährlich, wie es einst war, wenn man verdächtigt wurde, eine Phee zu sein? Es hört

Weitere Kostenlose Bücher