Spiegelriss
nichts mehr verlassen konnte. Die Normalität war in einer großen Krise. Es gab viele Einstürze und vereinzelte Fälle, wo Normale und Freaks die Plätze getauscht hatten. Vielleicht wollte man auch einfach jemanden wie mich ins Boot holen… Jedenfalls überlegte ich einen Tick zu lange. Zu dem Zeitpunkt waren Sie schon verurteilt.«
»Hm«, murmele ich und denke die ganze Zeit: Soll ich ihn vielleicht jetzt auf Ivan ansprechen oder lieber nicht? Weiß der Professor, dass sein früherer Student bei den Befragungen dabei war? Wurde Ivan genau aus dem Grund ins Dementio geholt – als Pheenexperte und Pheenrechtler?
Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich noch denken soll.
»Ich wusste selbstverständlich, dass Sie nicht sterben können.« Der Professor beugt sich vor und blickt über den Brillenrand in meine Augen. »Und als der Wald dann begann, die Normalität zu bedrängen, fühlten wir uns alle gestärkt in dem, was wir tun. Wir wussten, dass es nicht nur uns, sondern auch die Stadt retten konnte. Dass das, was wir tun, im Sinne der Pheen war.«
»Hat der Wald Sie nicht auch bedrängt?«, frage ich. »Gehen Sie wirklich davon aus, dass er Ihre Häuser und Ihre Leute schonen wird?«
Der Professor lächelt. Eben noch hatte er ein runzliges, fast gutmütiges Gesicht. Jetzt strahlt er etwas Blutrünstiges aus.
»Wissen Sie«, sagt er. »Natürlich gibt es auch auf unserer Seite Verluste, herbe Verluste. Aber das wird uns nicht aufhalten können. Denn erstens klammern wir Freaks uns nicht so verzweifelt an das Leben, geschweige denn an den Besitz. Wir sind nicht nur leidensfähiger, sondern auch jederzeit bereit, alles zu verlieren. Insbesondere wenn es etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und außerdem«, jetzt wird sein Gesicht plötzlich ganz leer, als wären alle Gefühle daraus fortgeweht worden, »außerdem hatten die meisten von uns auch gar nicht so viel zu verlieren.«
Quadrum
Nach dem Abendessen schleiche ich durch die Villa auf der Suche nach dem Professor, um ihn endlich unter vier Augen nach Ivan zu fragen. Dabei springen mir die Dinge ins Auge, die einen Hinweis auf das frühere Leben in diesen Wänden geben: die abgerissene Garderobe, die in einer Ecke steht, geblümte Bettbezüge, die jemand gnadenlos in Fetzen gerissen hat, um wahrscheinlich seine Stiefel damit zu putzen, eine Rassel unter einem Schrank, gemusterte Krawatten, die zusammengebunden wurden – den Sinn dieser Übung kann ich nicht erkennen –, aber nichts ist so schlimm, wie auf der Blümchentapete im Eingangsbereich mein eigenes Bild in einem vergoldeten Rahmen zu entdecken.
Das Foto, das von dem Fahndungsplakat stammt, kommt mir fremder denn je vor, obwohl ich es so oft gesehen habe. Die Ränder sind schief, sie wurden wahrscheinlich hastig zurechtgebogen, damit das Bild in den Rahmen passt. Ich nehme es ab und drehe es um, löse die Verschlüsse und die durchsichtige Vorderseite. Das Foto ist auf schlechtem Papier gedruckt, es klebt fest, aber es interessiert mich nicht. Derjenige, der es hier eingesetzt hat, hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Bild wegzuwerfen, das vorher drin gewesen ist und jetzt unter meinen runden Wangen zum Vorschein kommt.
Ich schaue in fünf Gesichter: ein Mann mit Schnurrbart, eine Frau mit blondem kinnlangem Haarschnitt, drei Kinder. Das jüngste ist noch ganz klein, ein winziges Bündel im Strampelanzug im Arm seiner Mutter. Der Mann guckt streng, aber seine Frau lächelt und die beiden größeren Kinder, ein Junge und ein Mädchen, blicken ernst in die Kamera. Trotzdem sehen sie aus wie Kinder, die nicht davon ausgehen, dass ihnen etwas Schlimmes widerfahren kann.
Ich schaue jeden von ihnen einzeln an, als könnte mir das Bild irgendetwas darüber verraten, wo sie jetzt sind, als könnte ich nachfühlen, was diejenigen von ihnen, die noch am Leben sind, jetzt wohl empfinden. Das Gesicht des Mannes kommt mir bekannt vor, ich habe ihn sicher auch schon einmal in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen.
Ich knülle mein Foto zusammen und stecke es in die Tasche. Dann höre ich ein Hüsteln hinter mir und drehe mich mit aufflammenden Wangen um, als hätte mich jemand bei etwas Unanständigem ertappt. Eine Weile schaue ich ratlos in die Gegend, bis ich kapiere, dass ich den Blick nach unten richten muss. Ich brauche Professor Melchior für ein vertrautes Gespräch nicht mehr zu suchen – er hat mich bereits gefunden.
»Ich kann mir vorstellen, was gerade in Ihnen vorgeht«, sagt
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