Spiegelriss
gehen und mich ins Bett verkriechen würde.
»Ja, denn Herr Okasaka beteiligt sich an den Kampfmaßnahmen und meldet sich regelmäßig hier im Hauptquartier. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich ihm gern ausrichten, dass Sie sich mit ihm unterhalten möchten. Ich wünsche Ihnen noch eine entspannte Nacht.«
Er nickt mir zu, öffnet die Tür einen Spalt und schlüpft nach draußen.
Aber ich weiß, dass ich heute hier nicht schlafen werde. Ich möchte keine Sekunde länger in diesem Haus bleiben. Ivan weiß also, dass ich hier bin, ist regelmäßig hier und geht mir dabei konsequent aus dem Weg. Ich will mir nichts mehr vormachen: Er hat keine Lust, mich zu sehen. Und diese Erkenntnis reißt mich aus der Starre, die mich in diesem Haus gehalten hat.
In der Nacht sitze ich auf der Treppe, warte ab, bis die einstige Luxusküche sich geleert hat, und schleiche mich hinein. Ich packe Kekse und Vitaminriegel ein, Suppen- und Puddingpulver, die man mit Wasser verrühren muss, schiebe die gehorteten Medikamente unter meine Jacke und schaue aus dem Fenster. Irgendwo draußen knallt es, der Himmel wird hell erleuchtet. In den anderen Räumen ist noch Betrieb, Freaks kommen und gehen, ich drücke mich in eine Ecke, damit sie mich nicht entdecken.
Ich beschließe, noch ein wenig zu warten. Irgendwann müssen sie doch schlafen.
Ich gehe hoch in mein Zimmer und lege mich trotz früherer Vorsätze hin. Erst will ich mich nicht zudecken, weil ich fürchte, dass ich dann sofort wegdämmere und nicht rechtzeitig aufwache. Außerdem habe ich das Gefühl, mich nicht entspannen zu dürfen, immer auf der Lauer sein zu müssen.
Es kommt genau, wie befürchtet: Mein Wille reicht nicht aus, ich strecke mich aus, ziehe mir die Decke über den Kopf und bin sofort weg. Aber zum Ausruhen komme ich auch nicht, weil das Kleinkind auf meiner Brust sitzt und mir mit den Fingern die Augen zu öffnen versucht. Ich schüttele den Kopf und versuche, es abzuwerfen.
»Lern endlich richtig sprechen«, schimpfe ich. Dann sehe ich mich um und fahre mit einem Schrei hoch. Neben mir im Bett liegt eine Frau – die Blonde von dem Foto, ich erkenne sie sofort, ihr Haar schimmert im Mondlicht.
Ich denke zwar, dass ich schon einiges hinter mir habe, aber mich neben einer Frau im Bett wiederzufinden, gehört zu dem Gruseligsten, was ich erlebt habe. Sie liegt auf dem Rücken, ihre Augen sind geschlossen und sie lächelt im Schlaf.
Das Kind muss nicht mehr an mir zerren. Ich springe ganz von allein aus dem Bett und laufe hinter ihm her, Hauptsache, ich komme aus diesem Zimmer heraus. Und dann renne ich durch das Haus, wie es einmal gewesen ist.
Es ist kaum zu ertragen, jetzt hier zu sein. Ich laufe über den Flur, passe auf, an keiner Tür zu halten, hinter der ein Kind im Schlaf atmet, das mich an meine Geschwister erinnern könnte. Sehe die Garderobe an ihrem Platz, die ordentlich aufgehängten bunten Mäntel, den kleinen runden Beistelltisch, den ich schön finde, darauf eine runde Vase, in der Vase Blumen. Ich greife nach einem Blütenblatt und zerreibe es zwischen den Fingern. Erstaunt stelle ich fest, dass es echt ist.
Echte Blumen. Vielleicht gibt es hier ja auch… ich weiß, dass ich die Villa jetzt doch nicht so schnell verlassen werde. Ich will das Quadrum finden, von dem ich fester denn je überzeugt bin, dass die Familie eins besitzt. Und da es sich in meinem Traum nicht um die Gegenwart handelt, ist es bestimmt noch nicht verbrannt.
Es ist eine beklemmende Suche. Ich gehe davon aus, dass das Quadrum nicht an prominentester Stelle hängt, aber auch nicht ganz versteckt ist. Ich laufe den Flur ab, schaue in die vorderen Salons, auf die sich sanft im Wind bewegenden Falten der Gardinen, die farblich perfekt zu den Sesselpolstern passenden Kissen. Hier ist es nicht. In den Kinderzimmern will ich als Letztes nachschauen. Dann entdecke ich es aber in einem der hintersten Zimmer, an der Wand, in einem schlichten Rahmen.
Ich höre mich selber lachen. Das Quadrum ist heil.
Es ist von mittlerer Größe, ich erkenne die Handschrift meiner Mutter sofort. Darauf eine Lichtung, umrahmt von blühenden Sträuchern. Ich weiß nicht, ob meine Sehnsucht oder meine Angst größer ist. Ich schüttele mich wie ein nasser Hund, um alles abzuwerfen, was mich daran hindern würde, durch diesen Rahmen zu meiner Mutter zu kommen.
Dann gehe ich vor dem Kind in die Knie.
»Klettere auf meinen Rücken«, sage ich. Es nickt, schlingt die Beine um mich und umfasst
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