Spiegelschatten (German Edition)
großzügig zu sein. Ein einziges Mal.
Er tat einfach so, als hätte er die Stimme nicht gehört.
*
Als Romy sich endlich traute, das Bett zu verlassen, war es halb drei. Für einen kurzen Moment war ihr so schwindlig, dass sie schwankte. Sie stützte sich an der Wand ab, bis sich der Schwindel gelegt hatte, dann sah sie sich nach etwas um, das ihr als Waffe dienen konnte.
Sie entschied sich für den Engel, der auf dem halbhohen Regal stand.
Helen hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt.
» Jeder Mensch braucht einen Schutzengel«, hatte sie gesagt und auf ihre unnachahmliche Weise gelächelt.
Er war aus Blech und etwa dreißig Zentimeter hoch. Sein rotes Kleid war bunt getupft, die blauen Flügel sahen aus wie kleine Wolken. Der Engel hatte flachsblondes Haar. Er hielt den Kopf keck in die Luft, lächelte frech und trug ein rotes Herz in den Händen, das an einer kurzen Schnur baumelte.
Jetzt konnte er zeigen, was er draufhatte.
Romy hatte sich die Socken übergestreift, die sie am Abend ausgezogen und auf dem Boden liegen lassen hatte. So würden ihre Schritte absolut lautlos sein. Sie ergriff den Engel, presste ihn an sich und schlich ins Badezimmer.
Alles schien unverändert.
Sie blieb stehen und ließ den Blick über jeden Gegenstand gleiten. Atmete langsam ein.
War da nicht ein fremder Geruch?
Eher der Hauch eines Geruchs.
Wie von einem Rasierwasser.
Kaum noch wahrzunehmen.
Romy spürte, wie sich Schweiß in ihren Handflächen sammelte. Sie packte den Engel fester, entschied sich dann jedoch, ihn gegen eine dickbauchige Flasche mit Badesalz einzutauschen. Vorsichtig wollte sie ihn auf der Fensterbank abstellen, als er ihr aus der Hand rutschte.
Das Scheppern durchbrach die nächtliche Stille wie eine Explosion. Romy schloss die Augen, als könnte sie es damit ungeschehen machen.
Sie zählte in Gedanken bis fünf.
Nichts passierte.
Danke, lieber Gott. Vielen, vielen Dank …
Als ihre Finger den Flaschenhals umfassten, fühlte sie sich ein klein wenig sicherer. Aber würde sie auch zuschlagen können?
Stell dir das nicht vor. Blende es aus. Geh weiter.
Zurück durchs Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Auch hier schien alles wie immer. Der Laptop stand auf dem Couchtisch, umgeben von dem Chaos, das sich automatisch ausbreitete, wenn Romy schrieb.
Die Vorstellung, dass jemand in ihren Papieren geschnüffelt haben könnte, machte sie verrückt.
Sie schaute sich um. Die Regale mit den Büchern, das Sofa, der Sessel, der Couchtisch, alles wie sonst.
Bis auf das Buch, das neben dem Sessel auf dem Boden lag, aufgeklappt, die Seiten nach unten.
War ihr das aus der Hand gefallen?
Aber das hätte sie doch bemerkt. Außerdem hatte sie am Abend gar nicht mehr in dem Sessel gesessen, und das Buch, das sie zurzeit las, hatte sie mit ins Bett genommen. Es lag wahrscheinlich noch immer auf dem Nachttisch.
Etwas Kaltes floss durch ihre Adern. Romy umklammerte den glatten Hals der Flasche. Wie festgefroren stand sie mitten im Zimmer und wagte sich nicht weiter.
Nur noch die Küche. Und die Diele. Dann kannst du Licht machen.
Und zu Helen laufen, dachte sie.
Auch in der Küche befand sich alles an Ort und Stelle. Der Kühlschrank machte die üblichen Geräusche, ein leises Vibrieren und in regelmäßigen Abständen ein Geräusch, das klang, als würde Flüssigkeit aufgesogen.
Und jetzt die Diele.
Romy aktivierte das letzte bisschen Entschlossenheit, das ihr noch verblieben war, und betrat die kleine Diele.
Noch einmal nahm ihre Nase eine Ahnung des fremden Geruchs auf. Dann sah Romy, dass die Wohnungstür einen Spaltbreit offen stand.
Rasch schlug sie sie zu, hastete durch die Räume und knipste überall Licht an. Erst danach stellte sie die Flasche ab, setzte sich aufs Bett und fing an zu zittern. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schaukelte vor und zurück und klapperte mit den Zähnen.
Es war kurz nach drei, als sie sich an das Buch erinnerte, das sie auf dem Boden des Wohnzimmers gesehen hatte. Mühsam rappelte sie sich auf. Ihre Muskeln schmerzten und ihre Augen brannten vor Erschöpfung. Langsam ging sie ins Wohnzimmer hinüber.
Jetzt, im Licht, konnte sie den Titel lesen.
Die Faszination des Bösen.
Dieses Buch gehörte ihr nicht!
Mit einem Kribbeln im Nacken bückte sie sich und hob es auf. Es war auf den Seiten236/237 aufgeschlagen und auf Seite236 war ein Satz mit leuchtend gelbem Textmarker hervorgehoben:
Ich werde dich töten.
Auf Seite237 war ein einziges Wort
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