Spiegelschatten (German Edition)
einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, und Calypso trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen.
Er führte sie in die Küche, in der seit Jahrhunderten keiner mehr aufgeräumt zu haben schien. Das in der Spüle gestapelte Geschirr und der fleckige Tisch mit dem verdorrten Blumenstrauß in der Vase und den schrumpligen Äpfeln in der Obstschale waren ihm peinlich. Er nahm sich vor, heute eine Stunde zu opfern, um ein bisschen Ordnung zu schaffen.
Normalerweise war es Helen, an der alles hängen blieb, weil sie so gutmütig war. Sie kümmerte sich als Einzige wirklich um die Räume, die sie gemeinschaftlich nutzten, verschönerte sie mit einem Tuch oder einem Kissen hier und einer Pflanze da, putzte Fenster und wischte Staub. Doch die chronische Faulheit der andern hatte sie endlich dazu getrieben, in einen Streik zu treten.
» Einen Moment bitte. Ich zieh mir eben was an.«
Calypso ging in sein Zimmer und schlüpfte in die Klamotten vom Vortag. Die Bettdecke raschelte, als Lusina sich unruhig im Schlaf bewegte. Er verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, um sie nicht aufzuwecken.
Der Kommissar und sein Kollege saßen am Tisch, die Hände in den Hosentaschen, um bloß nicht irgendwo kleben zu bleiben. Calypso wuchtete einen Stapel alter Zeitschriften von dem dritten Stuhl und schob ihn an die Wand. Auf dem vierten Stuhl stand seit Tagen ein Wäschekorb mit Bügelwäsche, die garantiert Tonja gehörte, denn Helen würde ihre nicht hier vermodern lassen.
Statt sich zu setzen, blieb Calypso beim Fenster stehen. Er fürchtete sich vor dem, was er zu hören bekommen würde.
» Wo waren Sie heute Nacht?«, fragte ihn der Kommissar.
Calypso kam sich vor wie in einem Theaterstück. Hatte er das richtig mitgekriegt? Hatte der Kommissar ihn tatsächlich nach einem Alibi gefragt?
» In meinem Zimmer«, antwortete er. » Ich habe geschlafen.«
» Können Ihre Mitbewohnerinnen das bestätigen?«
In diesem Moment klopfte es zaghaft an der offenen Tür, und Lusina betrat die Küche. Sie hatte sich angezogen, aber man erkannte an ihrem schlaftrunkenen Gesicht und dem wirren Haar, dass sie eben erst aufgestanden war.
» Ich kann es bestätigen«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
Ungeschminkt gefiel sie Calypso am besten. Er liebte es, wenn er sie auf die Augenlider küssen durfte, ohne dass sie ihn abwehrte, weil sie Angst um ihren Lidschatten hatte.
» Sie haben also geschlafen.« Der Kommissar blickte zwischen Lusina und Calypso hin und her. » Die ganze Nacht?«
» Nicht die ganze«, antwortete Lusina und ihr Lächeln vertiefte sich. » Aber Cal hat das Bett nicht verlassen. Das schwöre ich.«
Ihre Offenheit war Calypso unangenehm. Er merkte, wie er rot wurde.
» Warum wollen Sie das wissen?«, fragte er.
» Jemand ist heute Nacht in Romy Berners Wohnung eingedrungen.«
Romy…
» Ist ihr was passiert?« Mit pochendem Herzen wartete Calypso auf die Antwort.
» Sie steht unter Schock, aber ihr ist nichts geschehen.«
» Es wurde nichts entwendet«, erklärte Rick Holterbach. » Der Eindringling hat jedoch etwas hinterlassen. Eine sehr konkrete Drohung.«
» Und da fragen Sie mich, wo ich…«
Lusina trat auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Hüften. Ich stehe dir bei, hieß diese Geste, egal, was kommt.
» Romy Berner hat sich von Ihnen getrennt?«, fragte der Kommissar.
» Ja.«
» Und Sie…«, sprach der Kommissar Lusina an.
» Ich bin Cals neue Freundin.«
» Frau Berner hat uns von einem zweiten Wohnungsschlüssel erzählt«, sagte der Kommissar. » Würden Sie uns den bitte zeigen?«
Calypso ging in den Flur, öffnete die oberste Schublade der Kommode, nahm den Schlüssel heraus, kehrte in die Küche zurück und überreichte ihn dem Kommissar. Der sah ihm nachdenklich in die Augen.
» Jeder von uns weiß, wo er liegt«, verteidigte sich Calypso. » Das ist ja der Sinn der Sache.«
» Es waren keine Einbruchspuren zu finden«, sagte Rick Holterbach gedehnt.
» Also hat einer diesen Schlüssel benutzt?« Lusinas Stimme war auf einmal ganz hoch, als stünde sie kurz davor, auszurasten. » Und dieser Jemand muss automatisch Cal sein, weil er früher einmal mit Romy befreundet war?«
Früher einmal, dachte Calypso bitter.
Er konnte seine Gefühle für Romy nicht deuten, und wäre er ein anständiger Mensch gewesen, hätte er mit Lusina darüber geredet. Er hasste sich dafür, dass er nichts auf die Reihe kriegte.
» Es existieren nach Angabe von Frau Berner nur zwei
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