Spiegelschatten (German Edition)
Untersuchungshaft hatte Maxim Winter einen stark depressiven Eindruck gemacht, und er hatte sich unablässig mit einer Stimme auseinandergesetzt, die ihn bedrängte und quälte.
In solchen Augenblicken war er wieder zu einem Kind geworden, das in der Ecke kauerte und hilflos den Kopf mit den Armen bedeckte.
» Sie lässt mich einfach nicht in Frieden«, hatte er geflüstert und Bert voller Angst angestarrt.
» Wer?«, hatte Bert behutsam gefragt.
» Die Stimme«, hatte Maxim Winter kaum hörbar geantwortet.
» Wessen Stimme?«
Doch Maxim Winter war wieder in sich selbst versunken, hatte sich in den verwinkelten Räumen seiner Ängste eingeschlossen und war nicht mehr ansprechbar gewesen.
Bert hatte seine Eltern kennengelernt, ein Ehepaar mittleren Alters. Die Mutter ruhig, schüchtern beinah und so in sich gekehrt, dass sie fast abwesend wirkte. Der Vater groß, hager und auf eine finstere Weise selbstbewusst.
In ihrer Gegenwart hatte Bert angefangen zu frösteln, und es war ihm schwergefallen, sich das nicht anmerken zu lassen.
» Ich habe gewusst, dass es ein schlimmes Ende mit ihm nehmen würde«, hatte der Vater gesagt. » Schon dem Säugling konnte man es ansehen. Er schrie nicht– er brüllte. Nahm keinen Kontakt mit seiner Umgebung auf, blieb ganz für sich.«
Bert unterbrach ihn nicht, obwohl er es gern getan hätte.
» Nie kuschelte er sich an seine Mutter. Er drehte sich immer nur weg von ihr.«
Die Frau reagierte nicht. Bert fragte sich, ob die Worte ihres Mannes überhaupt zu ihr vordrangen.
» Bald fing er an, sich für die eigenartigsten Dinge zu interessieren.«
» Zum Beispiel?«
» Er schrieb Gedichte. Lieder. Wünschte sich zum zehnten Geburtstag eine Nähmaschine.
» Siegfried…«, sagte die Frau leise.
Sein Blick durchbohrte sie und kehrte wieder zu Bert zurück. » Und dann kamen die ersten Gerüchte auf.« Er runzelte die Stirn. » Ich habe versucht, es ihm auszutreiben, habe ihm eingebläut, er soll sich zusammenreißen, habe mit Engels- und mit Teufelszungen auf ihn eingeredet und alles, wirklich alles versucht, um es im Ansatz zu ersticken.«
Es, dachte Bert.
In den Augen der Frau schimmerten Tränen. Doch sie schwieg weiter und schaute sehnsuchtsvoll zum Fenster, als hielte sie es hier, in einem Zimmer mit ihrem Mann, kaum noch aus.
» Leider hatte ich keinen Erfolg.«
» Oh doch«, sagte Bert und wusste genau, dass er sich damit Ärger einhandelte. » Sie hatten Erfolg. Nur nicht den, den Sie sich wünschten.«
Das Wasser wurde kalt. Bert drehte es ab, stieg aus der Duschwanne und angelte nach einem Handtuch. Während er sich abtrocknete, rief er sich das Gespräch mit Urs Grünwald in Erinnerung, dem Psychotherapeuten, der Tobias Sattelkamp behandelt hatte.
Erst eine Stunde zuvor hatte er sich telefonisch angemeldet– und Glück gehabt. Ein Patient hatte kurzfristig seinen Termin abgesagt und Urs Grünwald konnte Bert empfangen.
Ohne den Namen zu nennen, setzte Bert ihm auseinander, was er über Maxim Winter in Erfahrung gebracht hatte. Der Psychotherapeut hörte ihm aufmerksam zu.
» Gut«, sagte er, nachdem Bert fertig war. » Nach dem, was Sie da schildern, scheint es mir, dass der Täter, von dem Sie sprechen, möglicherweise unter einer Kombination verschiedener Persönlichkeitsstörungen leidet.«
Bert sah ihn fragend an.
» Die menschliche Psyche«, erklärte Urs Grünwald, » ist so komplex, dass Störungen häufig nicht eindeutig klassifizierbar sind. Solche, sagen wir: Mischformen hat es zu allen Zeiten gegeben. In dem Fall, über den wir hier reden, erkenne ich klare Züge einer einerseits schizophrenen und andrerseits gespaltenen Persönlichkeit. Jemand befolgt die Befehle einer Stimme, ist in der Lage, seine Taten kaltblütig und exakt zu planen, kann sich jedoch später nicht an sie erinnern, als hätte ein anderer sie an seiner Stelle begangen.«
» Wessen Stimme ist es, die er hört?«, fragte Bert, obwohl er die Antwort längst wusste.
» Sie verstehen, dass ich keine Diagnose stellen kann, ohne den Menschen zu kennen, ihn gesehen und mit ihm gesprochen zu haben, Herr Kommissar.«
» Selbstverständlich.«
» So, wie Sie die Hintergründe erläutert haben, scheint es die Stimme des mächtigen, allgegenwärtigen, fordernden und verurteilenden Vaters zu sein.«
Bert nickte. Nachdenklich betrachtete er die Bilder an den Wänden, die so viel Ruhe ausstrahlten. Er begriff, warum das so sein musste.
» Und die Homophobie des Täters…«
»
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