Spiel der Angst (German Edition)
Planeten ihre Mutter lebte.
»Ach ja, stimmt ja.« Ihre Mum kicherte. »Pass gut auf, mein Kleines. Und denk daran, dass du …«
Doch da hatte Emily schon aufgelegt.
Als sie später mit Ryan durch den nahen Riverside Park spazierte und sich auf dem Hudson River zu ihrer Linken behäbig die Fähren und Boote mit Touristen von Norden nach Süden bewegten, während die Sonne blitzende Diamanten auf die Wasseroberfläche zauberte, fühlte sie sich frei.
Frei und glücklich.
3
Er stand auf dem Woolworth Building, das Fernglas an den Augen. Sie war genauso schön wie damals. Ihre roten Haare, die im milden Herbstwind wehten, die grünen Augen, die neugierig, aber auch etwas unsicher in die Welt blickten.
Und er hasste sie noch immer. Doch irgendwie bewunderte er sie auch.
Sie war letztes Jahr noch einmal davongekommen. Ein Glückskind, das ganz am Ende von der Klippe des Abgrunds zurück aufs rettende Land gesprungen war.
Damals.
Und er dachte daran, warum er sie jagen musste. Warum er nicht anders konnte. Dachte an die Szene, die sich wie mit glühenden Lettern in sein Bewusstsein eingebrannt hatte.
Es war vor Jahren gewesen. Wenn nicht gar vor Jahrzehnten. Er hatte gedacht, dass es sein Geburtstag gewesen wäre, damals, vor langer Zeit. Doch er hatte das Auto nicht gesehen. Und die Menschen, die ihn entführt hatten.
Es war doch sein Geburtstag.
Und er wurde entführt.
Dann war der Wagen hinter ihm. Und zwei Arme hatten ihn ergriffen.
Er war entführt. Er war verschwunden. Am helllichten Tag. Und niemanden kümmerte es. Seine einzige Hoffnung war, zurückzukommen, zurück zu seinen Eltern, seiner Familie und dem wunderschönen Haus mit der großen Kuppel.
Sie hatten ihn entführt. Und schließlich hatten sie ihn gehen lassen. Und dann war er zurückgekehrt. Er hatte vor dem elterlichen Haus mit der hohen Kuppel gestanden. Der Schlüssel, der immer gepasst hatte, passte nicht mehr. Tränen standen in seinen Augen, und sein Hals war trocken. Sein Kopf schmerzte. Mit klopfendem Herzen war er in den Garten gegangen. Er sah es so deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen. Vielleicht war es der blaue Himmel, der wie eine Leinwand all das, was man darauf projizierte, zur Realität werden ließ.
Er war durch den Garten gegangen. War ins Innere des Hauses gekommen.
Aber sein Zimmer war verschwunden.
Stattdessen war dort ein neues Zimmer. Und noch etwas anderes passte nicht ins Bild. Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, tauchte es vor seinen Augen auf. Auf dem Boden, inmitten von Spielsachen, Luftschlangen und Luftballons, saß ein kleines Mädchen, drehte sich um und sah ihn mit großen Augen an.
»Wer ist das?«, hatte das Mädchen gefragt, doch eigentlich hätte Jonathan diese Frage stellen sollen.
Jonathan hatte in die grünen Augen des Mädchens geschaut, die einen Stich von Blau hatten, ein ähnliches Blau wie der Himmel vor dem Fenster eines Flugzeugs. Hatte dann in die Augen seines Vaters und seiner Mutter geblickt, die beide so taten, als hätten sie ihn noch nie gesehen. Das Mädchen, das vielleicht vier Jahre alt war und zwischen den Luftballons hockte, wie ein Eindringling, blickte ihn gleichzeitig neugierig und misstrauisch an. Und er schaute zurück.
»Und du?«, hatte Jonathan gefragt. »Wer bist du überhaupt?« Er hatte das Mädchen unverwandt angestarrt.
Das Mädchen hatte Jonathan aus großen grünen Augen angeschaut.
»Ich?«, hatte sie gefragt, und ihre grünen Augen wurden noch größer. »Ich bin Emily. Und heute ist mein Geburtstag.«
Seine Eltern hatten ihn eingetauscht. Er hatte drei Monate so gelebt, wie er es eigentlich sein ganzes Leben verdient hatte. Und dann war er zurückgebracht worden. Zu denen, zu denen er niemals gehört hatte.
Und die, die die größte Schuld daran trug, hatte es geschafft, ihrer Strafe zu entkommen.
Emily.
Emily Waters.
Doch heute würde es anders werden.
Heute würde er sie kriegen.
Anders als damals. Noch perfider.
Denke bei allem, was du hast, daran, dass du es verlieren könntest, hatte ihm einmal ein weiser Mann gesagt.
Der Mann hatte recht gehabt.
Etwas gar nicht erst zu haben kann wehtun.
Doch etwas zu haben, das man dann weggenommen kriegt, ist das Schlimmste von allem.
Und das würde Emily erleben.
Sie, die immer noch glaubte, dass er vor einem Jahr in London von der U-Bahn erfasst worden war.
Sie hatte damals ihre Entscheidung getroffen.
Und sie hatte es getan.
Sie war die dunklen Schienen hinuntergerannt. Hinter sich
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