Spiel der Angst (German Edition)
auch hinkriegen, nach New York zu kommen und so mit Terminen vollgekleistert zu sein, dass er, ohne Emily zu treffen, wieder abreisen würde. Manchmal flog er auch morgens nach New York und abends ohne Übernachtung wieder weg.
Erst hatte Emily ihre Mum immer für übertrieben vorsichtig gehalten, doch nach den schrecklichen neun Tagen, die sie in London erlebt hatte, konnte sie ihre Mum mehr und mehr verstehen. Sie hatte zu Recht unglaubliche Angst um ihre Tochter, nach alldem, was passiert war. Emily selbst allerdings befand sich immer noch in diesem merkwürdigen Zustand, über den sie einfach nicht Herr wurde. Irgendwie war ihr klar geworden, dass es so oder so kein Entkommen gab, auch wenn sie das seltsame und makabre Spiel, das da mit ihr gespielt worden war, noch nicht vollkommen begriffen hatte. Es kam ihr vor, als liefe sie über eine Brücke, auf beiden Seiten der Brücke waren irgendwelche Feinde, und die einzige Möglichkeit, denen zu entkommen, war, von der Brücke zu springen – tausend Meter in die Tiefe.
Am Ende war es ihr gelungen, von der Brücke zu springen. Und sicher zu landen. Und dem zu entkommen, der sie gejagt hatte. Und dafür war sie immer noch dankbar.
Jonathan.
Der sie gejagt hatte.
Und der sich Der Spieler genannt hatte.
Ganz verschwommen war noch die Erinnerung an ihn, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, damals, als sie noch ganz klein gewesen war. Wann immer sie versuchte, die Erinnerung herbeizuführen, verschwand diese wie ein scheues Tier. Wie ein Traum, der sofort wie eine Seifenblase zerplatzt, sobald man ihn zu laut bei seinem Namen ruft und dadurch aufwacht.
Vor ihrem inneren Auge sah sie das Auto. Und sie war in dem Auto. Und Fremde waren dabei. Draußen standen ihre Eltern. Doch sie waren nicht bei ihr. Und sie wollten sie offenbar auch nicht begleiten. Sie schauten nur. Schauten in das Auto hinein. Dann sah sie den Jungen.
Jonathan.
Er stand dort bei ihren Eltern. Und lächelte sie an. Und sie weinte. Konnte nur weinen, während der Junge, den sie nicht kannte, dort mit ihren Eltern stand und lächelte. Lächelte. Lächelte.
Sie hatte es fast vergessen.
Bis er zurückgekommen war.
Mit dem seltsamen Bild der Sternennacht von van Gogh in ihrem Postfach in London.
Mit der Botschaft, die sie gelesen hatte.
DU HAST MIR MEIN LEBEN GESTOHLEN. UND ICH HOLE ES MIR ZURÜCK.
So tickte Jonathan. Oder so hatte er getickt.
Beide, sie und Jonathan, verband ein grausames Geheimnis. Und je weiter entfernt sie von London war, desto mehr würden dieses Geheimnis und die Erinnerung daran verblassen und hoffentlich irgendwann endgültig verschwinden. Verschwinden in die tiefsten Winkel ihres Bewusstseins, wie radioaktiver Giftmüll in einer Bleikammer, der dort niemandem mehr schaden kann.
SIEG ODER TOD , hatte Jonathan in seiner ersten Nachricht geschrieben.
Sie hatte gewonnen.
Und er hatte den Tod gefunden.
Das Flugzeug verlor sanft an Höhe. Eigentlich mochte Emily das Fliegen nicht, doch hier und jetzt, neben Ryan, der ihre Hand hielt, war es etwas anderes. Sie hatten sich unterhalten, hatten gelacht und sich Fremdenführer von New York und Prospekte der Columbia angeschaut. Einen Film hatten sie auch gesehen, irgendeine Komödie. Und dann waren die acht Stunden des Fluges auch schon fast vorbei gewesen.
Die Zeit verfliegt, wenn man Freude hat, sagte man in London. Und auch wenn Fliegen für Emily nicht unbedingt Spaß war – dazu fühlte sie sich im Flugzeug zu eingeengt –, so war doch der Moment des Abhebens, des Fliegens und des Sich- fortbewegens wie eine Befreiung aus ihrer dunklen und bedrückenden Vergangenheit.
Sie drehte sich zu Ryan. »Mein Vater sagte übrigens auch, man müsse, kurz bevor das Flugzeug landet, etwas besonders Geistreiches sagen.« Sie lächelte. »Dann hat man Glück und Erfolg bei dem, was man am Boden vorhat.«
Er lächelte wieder sein Lächeln, das sie schon am ersten Abend verzaubert hatte.
»Ich denke, bevor das Flugzeug abhebt? Hast du jedenfalls vorhin gesagt.«
»Vor dem Start. Und auch zur Landung.« Emily grinste.
»Soll ich mir schon wieder was ausdenken?« Seine dunklen Augen blitzten sie amüsiert und ein wenig verwundert an.
»Wer sonst?«, entgegnete Emily und zupfte an seinem Arm. »Du bist der Zeremonienmeister des Fluges.«
»Seit wann?«
»Seit jetzt.«
Er nestelte an den Ecken der New York Times , die auf seinem Platz lag, und schien eine Weile nachzudenken.
»Äh, tja, also …« Er starrte angestrengt
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