Spiel der Schatten (German Edition)
und nicht in einer Opiumhöhle.«
»Die ganze Nacht?« Finlay schaute sie fragend an. »Du hast dich schon einmal in deinem Vater geirrt, vergiss das nicht. Und hast du nicht gesagt, dass er sich verändert hätte? Dass ein völlig anderer Mensch aus ihm geworden ist? Opium pflegt genau diese Wirkung zu haben.«
»Auch wenn man es zum ersten Mal zu sich nimmt?«, fragte Cyn.
»Am Anfang lässt die Wirkung nach einiger Zeit wieder nach«, wusste der Polizist zu berichten, »aber je länger man es nimmt, desto verheerender ist die Wirkung – und ehe man es merkt, ist das Leben ein einziger Rausch. Ich habe Männer gesehen«, fügte er düster hinzu, »denen der Drache den Verstand geraubt hat. Am Ende wussten sie nicht einmal mehr, wer sie waren.«
Cyn schauderte. »Bei meinem Vater hat die Wirkung aber nicht nachgelassen«, gestand sie leise ein. »Seit seiner Rückkehr sind drei Tage vergangen, und sein Zustand ist unverändert.«
»Und ist er völlig apathisch und ohne jede Teilnahme?«, wollte Finlay wissen.
Cyn nickte traurig. Noch vor ein paar Tagen wäre sie vermutlich in Tränen ausgebrochen, inzwischen konnte sie das nicht mehr. Ihre Tränen waren versiegt, sie fühlte sich nur noch leer und ausgebrannt.
Zusammen mit Lucy und Albert hatte sie die vergangenen beiden Tage damit verbracht, all das aus dem Theater zu schaffen, das nicht zum Inventar gehörte – ein paar Kleider, einige Bücher, dazu ein paar Erinnerungsstücke an ihre Mutter. Insgesamt zwei Kisten, die sie in ein schäbiges Lagerhaus in St. Giles gebracht hatten, das einem Onkel von Albert gehörte und wo er auch wohnte. Alles andere, was sich jetzt noch im Theater befand, würde in zwei Tagen Desmond Brewster gehören. Dann würden sie alle ohne Arbeit sein – und was Cyn und ihren Vater betraf, so hatten sie dann auch kein Dach mehr über dem Kopf.
»Nun«, meinte Finlay, und es war das erste Mal, dass Cyn den Polizisten lächeln sah, »in diesem Fall gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, dein Vater ist dem Drachen längst verfallen, ohne dass du es bemerkt hast, oder aber, in jener Nacht ist ihm irgendetwas anderes widerfahren. Und nun verschwinde«, fügte er hinzu, nun wieder so abweisend wie gewohnt. »Ich habe schließlich Wichtigeres zu tun, als einem armen Gör von Dingen zu erzählen, von denen es ohnehin nichts versteht.«
»Natürlich«, sagte Cyn. »Danke, Sergeant.«
»Sergeant Finlay«, verbesserte er.
»Danke, Sergeant Finlay. Auf Wiedersehen.«
»Muss nicht sein«, knurrte der Gesetzeshüter, der wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war und seinen Bart zwirbelte. »Wäre ja auch noch schöner, wenn allenthalben jemand hereinkommen und mich von der Arbeit abhalten würde.«
Cyn verließ das Polizeirevier durch die schmale Tür und ging nach draußen. Nachdem sich der Nebel in den vergangenen Tagen ein wenig gelichtet hatte, hing er seit diesem Morgen wieder so dicht und zäh in den Straßen, dass man keine zehn Schritte weit sehen konnte. Die Menschen auf den Bürgersteigen, die Verkaufsstände, die Kutschen und Fuhrwerke auf den Straßen – all das war nur schemenhaft zu erkennen, die Geräusche klangen dumpf und hohl.
Das Klappern von Hufen auf Pflastersteinen.
Das Knarren und Rasseln der Geschirre.
Das Gebell streunender Hunde.
Das Schnauben der unweit verkehrenden Eisenbahn.
Zeitungsjungen, die lautstark die Morgenausgaben der »Times«, des »Standard« und der »Daily News« anpriesen und sich dabei einen erbitterten Wettstreit mit den Costermongern, den Schuhputzern und den anderen Straßenhändlern lieferten. Eine einzelne Stimme jedoch ragte aus dem Gewirr heraus, weil sie lauter und durchdringender war als alle anderen.
»Kommen Sie!«, brüllte sie. »Kommen Sie und staunen Sie, ehrenwerte Gentlemen und hochgeschätzte Damen! Trauen Sie Ihren Augen und erleben Sie Wunder über Wunder – im Caligorium, dem Theater der Sensationen am Finsbury Circus!«
Wie angewurzelt blieb Cyn stehen.
Das Caligorium!
Auf Schritt und Tritt schien es sie zu verfolgen!
Sie konnte nicht anders, als die Richtung einzuschlagen, aus der die heisere Stimme drang. Je weiter sie sich durch den dichten Nebel und das Gewühl der Menschen vorarbeitete, desto deutlicher konnte sie die Worte hören.
»Besuchen Sie das Caligorium! Werden Sie Zeuge von Wundern, wie sie das menschliche Auge nie zuvor erblickt hat! Lassen Sie sich verzaubern von einer Welt der Fantasie! Besuchen Sie ein Universum der Dinge und der
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