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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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hatte. Seine schwarze Uniform war voller Kuchenbrösel.
    »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass sie recht hatten«, gab Cyn sich scheinbar einsichtig – vielleicht würde das den gestrengen Polizisten besänftigen. »Mein Vater ist tatsächlich nach Hause zurückgekehrt, genau wie Sie es gesagt haben. Noch am selben Tag.«
    »Na also, wusst ich’s doch. Aber mir weismachen wollen, dein alter Herr wäre verschwunden.« Finlay schlang den letzten Rest Kuchen herunter, zog dann die oberste Schublade seines Schreibtischs auf und entnahm ihr einen kleinen Kamm, mit dem er sich die Brösel aus dem Schnurrbart strich. »Es geht eben nichts über jahrelange Erfahrung in der Polizeiarbeit«, meinte er, legte den Kamm zurück und stieß die Schublade wieder zu.
    »Sie sind wohl schon ziemlich lange dabei?«, fragte Cyn.
    »Das will ich meinen – achtzehn Jahre werden es demnächst. Zuerst vier Jahre unten an den Docks, dann sieben in Bethnal Green. Den Rest habe ich hier verbracht.«
    »Und in all dieser Zeit haben Sie sicher vieles gehört und gesehen.«
    »Natürlich, Kindchen.« Finlay nickte, offenbar geschmeichelt von Cyns Interesse, und zwirbelte ein Ende seines Barts. »An den Docks geschehen Dinge, die sich andernorts niemand vorstellen kann. Oder hast du schon mal gesehen, wie ein Rudel ausgehungerter Waisenkinder über den Kadaver einer Ratte herfällt? Oder wie ein Mann aussieht, der den Fehler begangen hat, sich mit den Chinesen anzulegen?«
    »Nein«, gab Cyn schaudernd zu.
    »Ich könnte dir Geschichten erzählen, Mädchen, die dich vor Grauen schreien lassen würden. In dieser großen Stadt gibt es mehr Unrat und Schmutz, als irgendjemand aufsammeln kann. Von dem menschlichen Abschaum ganz zu schweigen.«
    »Haben Sie …« Cyn zögerte.
    Sollte sie es tun?
    Die Frage stellen, die ihr auf den Lippen brannte?
    Natürlich hatte sie gehofft, nicht ausgerechnet Finlay, sondern irgendeinen anderen Polizisten in der Wache anzutreffen, aber da der Sergeant einen vergleichsweise guten Tag zu haben schien, konnte sie ebenso gut ihn fragen.
    »Was?«, hakte er nach und sah sie prüfend an.
    »Haben Sie auch schon einmal von Männern gehört, die sich über Nacht verändert haben?«, hörte Cyn sich selbst fragen. Ihr war elend dabei zumute, so als würde sie nicht nur ihren Vater verraten, sondern auch noch Lucy und all die anderen, die nicht wussten, dass sie hier war.
    »Inwiefern verändert?«
    »Nun ja … Männer, die am einen Tag noch treu sorgende, liebevolle Väter waren – und am Morgen darauf nur noch leere Hüllen, die keinen Anteil mehr am Schicksal derer nehmen, die sie lieben?« Sie sah, wie sich Finlays Augenbrauen kritisch verengten und schalt sich eine Närrin, weil sie ihm davon erzählt hatte. Was bildete sie sich ein? Dass ausgerechnet der Mann, der ihr schon bei ihrem ersten Besuch kein Wort geglaubt hatte, ihr nun helfen würde?
    »Du meinst, als ob etwas in ihnen gestorben wäre?«, fragte der Sergeant unerwartet.
    »J-ja«, hauchte Cyn überrascht. »Haben Sie …?«
    Finlay erhob sich von seinem Schreibtisch und trat an den Schalter. »Mehr als einmal«, gab er mit gedämpfter Stimme zu. »Ich habe gesehen, was der Drache aus Menschen macht. Er verzehrt sie von innen und lässt sie zu willenlosen Kreaturen werden.«
    »Der … der Drache?« Cyn sah den Polizisten verwundert an und versuchte zu verstehen. Auf dem Markt hatte sie Leute vom Drachen sprechen hören, leise und mit verschwörerischen Blicken, aber sie war sich nicht sicher, ob es das war, was Finlay meinte. »Sprechen Sie von … von Rauschgift?«
    »Natürlich. Dieses elende Zeug wird in der ganzen Stadt verkauft, in den sauberen Apotheken des West End ebenso wie in den dunklen Kellern des East End. Opium verspricht allen, die es zu sich nehmen, süßes Vergessen, aber wenn sie aus dem Rausch erwachen, ist alles nur noch schlimmer als zuvor.«
    Cyn überlegte. Natürlich hatte sie von den Opiumhöhlen unten am Hafen gehört. Und sie wusste auch, dass es Menschen gab, die sich regelmäßig vor dem rauen Alltag dorthin flüchteten, aber der Gedanke, dass auch ihr Vater zu ihnen gehören könnte, war ihr nie gekommen.
    Sollte das die Lösung des Rätsels sein? War der alte Horace vor Kummer über den Verlust des Theaters in eine dieser Spelunken gegangen und hatte den Odem des Drachen geatmet, wie die Chinesen es nannten?
    »Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Soviel ich herausgefunden habe, war mein Vater im Theater,

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