Spiel der Schatten (German Edition)
Verstand verloren?«
»Wieso? Hattest du etwa Angst?«, fragte sie, während ihr eigener Herzschlag wie wild pochte.
»Nein, natürlich nicht«, widersprach er rasch, »was hätte mir auch passieren sollen? Aber du hättest dir bei diesem Unfug alle Knochen brechen können! Was musstest du auch unbedingt auf diesen dämlichen Turm steigen?«
Durch die Öffnung im Bauzaun schlüpfte Cyn wieder hinaus. »Du klingst wie meine Freundin Lucy, weißt du das?«, stieß sie hervor, während sie sich von dem halb fertigen Gebilde am Flussufer entfernten. »Sie ist auch stets in Sorge um mich.«
»Unsinn, ich bin nicht in Sorge um dich, ich …«
»Ja?«, hakte Cyn nach, als er plötzlich verstummte.
»Ich bin nur froh, dass dir nichts geschehen ist«, drückte der Junge es anders aus.
»Ich auch«, versicherte sie lächelnd. »So etwas nennt man übrigens Lebensfreude. Und die wollte ich dir schließlich zeigen, richtig?«
»Was soll das heißen? Hast du das etwa geplant?«
»Und wenn?«, fragte Cyn dagegen.
»Du bist verrückt!«, beschwerte sich Milo, aber es klang nicht vorwurfsvoll, sondern beinahe bewundernd. »Völlig verrückt, hörst du?«
»Und das von einem Schatten«, konterte sie und musste lachen. Zunächst war es noch ein verhaltenes, mädchenhaftes Kichern, aber dann wurde lautes, fast hysterisches Gelächter daraus, in dem sich die Sorge und die Verzweiflung der letzten Tage Bahn brachen, während Milo weiter lamentierte.
»Verrückt! Einfach nur verrückt!«
So ging es eine ganze Weile. Cyn scherte sich nicht darum, dass die Passanten, denen sie auf der Lower Thames Street begegneten, die Köpfe schüttelten und ganz offenbar dachten, dass das Mädchen mit der Puppe den Verstand verloren hätte. Sie beruhigten sich erst, als sie das Zollgebäude passiert und die London Bridge erreicht hatten.
»Und wohin jetzt?«, wollte Milo wissen.
Cyn horchte auf. »Soll das heißen, dass du weitermachen willst?«
»Vielleicht«, entgegnete der Schatten zögernd. »Unter einer Bedingung.«
»Nämlich?«
»Keine Türme mehr.«
»In Ordnung.« Cyn grinste, während sie mit dem Puck auf dem Arm ihren Weg am Fluss entlang fortsetzte. »Mir ist ohnehin etwas sehr viel Besseres eingefallen.«
Keiner von beiden ahnte, dass sie beobachtet wurden.
17
SPUREN DER VERGANGENHEIT
»Was ist dadrin?«, wollte Milo mit Blick auf das Gebäude wissen, das jenseits der Säule und der beiden Brunnen des Trafalgar Square stand – ein breiter, eindrucksvoller Bau, in dessen Mitte sich eine Kuppel erhob. Breite Stufen führten zu einem von hohen Säulen getragenen Portal.
»Die Nationalgalerie«, erwiderte Cyn. »Meine Mutter hat mich zum ersten Mal hierhergebracht, als ich noch ganz klein war.« Bei der Erinnerung musste Cyn lächeln. »Ich weiß noch, dass ich wie verzaubert war. Ich bettelte meine Mutter an, möglichst bald wieder mit mir herzukommen. Danach ist sie jedes Jahr mit mir in die Nationalgalerie gegangen, immer an meinem Geburtstag, bis …«
»Bis was?«, hakte Milo nach, als sie plötzlich verstummte.
»Bis sie starb«, erklärte Cyn hart.
Ohne Milos Antwort abzuwarten, überquerte sie die Straße und den Vorplatz und stieg die Stufen zum Eingang hinauf. Da es ein Wochentag war und das Museum gerade erst geöffnet hatte, waren noch nicht viele Besucher zugegen. Nur einige Studenten standen vor dem Eingang und bedachten das Mädchen, das eine ramponiert aussehende Puppe auf dem Arm trug, mit belustigten Blicken. Keiner der gelehrten jungen Herren bemerkte jedoch, dass der Schatten, den die Puppe im fahlen Sonnenlicht warf, in Wirklichkeit gar nicht ihr eigener war.
In der Tasche ihrer Jacke fand Cyn noch ein Sixpence-Stück und bezahlte damit den Eintritt. Auch der Mann an der Kasse blickte etwas befremdlich drein, als er den Puck auf ihrem Arm sah, sagte jedoch nichts. Im nächsten Moment war Cyn auch schon an ihm vorbei und stand in der großen Eingangshalle, von der die Gänge zu den Sälen der Galerie abzweigten.
»Nur sechs Pence Eintritt?«, staunte Milo. »Das Caligorium kostet zwei Shilling!«
»Was hast du erwartet?«, fragte Cyn lächelnd. »Die besten Dinge im Leben gibt es sogar gratis.«
Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein, sog den Geruch von altem Leinen und frischem Bohnerwachs ein, der etwas Vertrautes hatte und Erinnerungen an viele glückliche Stunden weckte, die sie hier verbracht hatte.
Vor langer Zeit …
»Und jetzt?«, wollte Milo ungeduldig
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