Spiel der Schatten (German Edition)
wissen.
»Geduld«, bat sie sich aus und stieg die Stufen der Eingangshalle hinauf. Dann bog sie nach links ab, und sie gelangten in den ersten der um diese Zeit noch menschenleeren Ausstellungsräume.
Tageslicht, das durch ein kreisrundes Deckenfenster fiel, erhellte einen Saal, der völlig leer war – bis auf die Gemälde, die an den dunkelgrünen Wänden hingen und auf den Betrachter wirkten.
»Ist das alles?«, fragte Milo uninteressiert. »Nur Bilder?«
»Einige der schönsten Bilder, die je gemalt wurden«, verbesserte Cyn geduldig.
»Och«, machte Milo enttäuscht.
»Um dir zu zeigen, zu was für wunderbaren Dingen Menschen fähig sind, ist dies genau der richtige Ort«, war Cyn überzeugt und trat an das erste Gemälde, das das Porträt eines ältlichen, wichtig aussehenden Mannes zeigte. Gleich daneben war eine ganze Gruppe von Menschen zu sehen, alle in altertümlichen Gewändern, die Haut von vornehmer Blässe.
»Ist das nicht wunderbar?«, fragte sie mit ehrfürchtigem Flüstern. »Alle diese Menschen haben einmal wirklich gelebt. Es ist, als würden sie auf einer Bühne stehen, und als wäre die Zeit für immer angehalten worden.«
»Findest du?« Milo teilte ihre Begeisterung ganz offenkundig nicht. »Wenn diese Leute alle wirklich gelebt haben, dann sag mir doch mal, wer der fette Kerl im Pelzmantel ist.«
Cyn lächelte. »Dasselbe habe ich meine Mutter auch gefragt. Sie erklärte mir, dass dieser Mann einst der König von England gewesen ist.«
»Schön ist der aber nicht«, wandte Milo ein. »Und siehst du dieses große Bild dort drüben? Das ist schlecht gemacht. Der Maler hat die Schatten vergessen.«
»Darum geht es doch gar nicht«, wandte Cyn ein. »Einige dieser Bilder sind sehr alt, bis zu sechshundert Jahren. Die Maler jener Zeit mussten erst noch lernen, die Natur so abzubilden, wie sie tatsächlich ist. Aber darum geht es mir gar nicht.«
»Nein? Worum geht es dir denn dann?«
Cyn war vor ein Bild getreten, das das Panorama einer Schlacht zeigte. Ein Heer von Lanzenreitern hatte sich auf der linken Seite versammelt, in Eisen gerüstete Kämpfer, deren Pferde mit blauem Zaumzeug verziert waren, wohingegen der Anführer eine leuchtend rote Kopfbedeckung trug. Auf der rechten Seite stand die gegnerische Streitmacht, und der Kampf zweier Krieger, die sich hoch zu Ross duellierten, hatte bereits begonnen. Zur Mitte hin schien sich das Bild in die Tiefe fortzusetzen, über Äcker und Hügel hinweg in weite Ferne.
»Darum geht es mir«, antwortete Cyn. »Es kommt mir nicht sosehr darauf an, was ein Bild darstellt und wie es gemalt wurde, sondern dass es mich in eine andere Zeit entführt. Ich stelle mir dann vor, dass jedes dieser Bilder ein Fenster in die Vergangenheit ist. Ist das nicht wunderbar?«
»Es geht«, meinte Milo. »Kommt darauf an, was man durch das Fenster sieht.«
Sie gingen weiter in den nächsten Saal und in den übernächsten, betrachteten die Gemälde an den Wänden. Einige davon zeigten Porträts, andere geschichtliche Darstellungen oder idyllische Landschaften. Wieder andere – und diese mochte Cyn am meisten – bildeten Szenen aus Sagen und Mythen ab. Odysseus und Herakles, die Titanen und die Götter der Antike, sie alle gaben sich ein Stelldichein auf den Leinwänden, die vor so langer Zeit bemalt worden waren.
Von den Bildern der italienischen, niederländischen und deutschen Meister gelangten sie zu Gemälden aus Spanien, Frankreich und England.
Eines von ihnen zeigte eine Hafenszene bei Abendstimmung, und Cyn blieb stehen. Der Himmel war leicht bewölkt und hatte bereits die weiche Färbung des späten Tages angenommen, die Sonne stand tief und spiegelte sich auf dem Wasser. Draußen auf dem Meer waren Schiffe mit gerefften Segeln zu erkennen, zur Linken die Überreste eines alten Tempels. Auf der rechten Seite ein weißes, prunkvoll aussehendes Gebäude mit einem Säulenportal, dahinter ein trutziger Turm, der aus dem Wasser ragte und über eine Brücke mit dem Festland verbunden war. Im Vordergrund, am sandigen Ufer, lagen Ruderboote, deren Besatzungen etwas entluden, das Cyn immer für einen kostbaren Schatz gehalten hatte. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass das Gemälde den Besuch der Königin von Saba bei König Salomon zeige. Der Künstler hatte versucht, jenen Augenblick in Bilder zu fassen, in dem die Königin und ihr Gefolge an Land gingen – aus seiner ganz eigenen Sicht.
»Das ist mein Lieblingsbild«, erklärte
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