Spiel der Schatten (German Edition)
Cyn.
»Warum?«
»Ich weiß es nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weil es wie die Dekoration einer großen Bühne aussieht. Oder weil ich auch gerne einmal über das Meer fahren und andere Länder bereisen würde.
»Wozu?«
»Wozu?« Cyn konnte nicht glauben, dass Milo das fragte. »Um andere Orte zu sehen und andere Menschen kennenzulernen natürlich. Das muss wunderbar sein.«
»Eigentlich nicht. Wenn du an einigen Orten gewesen bist, stellst du fest, dass die Menschen überall gleich sind. Gleich verschlagen. Gleich dumm.«
»Ist das dein Ernst?«
»Und ob. Dieses Bild dort im nächsten Saal, siehst du das?«
»Natürlich.« Cyn ging mit der Puppe auf dem Arm in den nächsten Ausstellungsraum, der in dunklem Rot gehalten war. Es gab hier nur wenige Bilder, die dafür riesig groß waren. Eines davon zeigte wie zuvor eine Abendszene, aber diese war ganz anders beschaffen.
Düster.
Unheimlich.
Dunkle Wolken ballten sich über einer gewaltigen Menschenmenge zusammen, die abzubilden den Künstler Monate gekostet haben musste. Jedes der Gesichter war anders gemalt, man konnte Frauen und Männer, junge und alte Menschen unterscheiden. Nur eins war ihnen allen gemein: der Hass, der aus ihren Zügen sprach. Fäuste wurden drohend emporgereckt, einige der Männer waren mit Knüppeln und Forken bewaffnet.
Aus der Mitte der Menge ragte ein Podest empor, auf dem eine makabre Vorrichtung stand – ein mechanisches Fallbeil, dessen einziger Zweck darin zu bestehen schien, Menschen zu enthaupten. Und vor dem grässlichen Ding stand ein Mann mit langem Haar, der den Schaulustigen ein soeben abgetrenntes Haupt entgegenstreckte, sein schneeweißes Hemd ein krasser Gegensatz zum blutigen Rot, das die Szene und den ganzen Saal beherrschte. Wie jedes Gemälde war auch dieses stumm und unbewegt, aber Cyn hatte das Gefühl, den Brandgeruch zu schmecken und die Schreie der aufgebrachten Menge zu hören.
»Wie schrecklich«, hauchte sie beklommen.
»Du sagtest vorhin, ein Gemälde wäre für dich wie ein Fenster in die Vergangenheit.«
»Und?« Mangels eines anderen Gegenübers sah Cyn fragend den Puck an.
»Durch dieses Fenster habe ich schon einmal gesehen«, erwiderte Milo leise.
»Was?« Cyns Blick pendelte zwischen dem Gemälde und dem Puck hin und her, obwohl nicht zu erwarten war, dass sich die Züge der Puppe regen würden. »Was willst du damit sagen?«
Milo erwiderte nichts.
»Diese schrecklichen Dinge sind vor einhundert Jahren geschehen«, sagte Cyn, »im fernen Frankreich …«
»Ich weiß.«
»Aber wie … wie kann es dann sein, dass du …?«
»Lass uns weitergehen«, forderte er sie auf.
Es klang weder hämisch noch nörgelnd wie so oft zuvor, sondern war ganz offensichtlich eine ehrlich gemeinte Bitte. Cyn nickte widerstrebend und ging weiter, doch keines der Bilder aus den nachfolgenden Sälen, die die Werke weiterer französischer und auch venezianischer Künstler präsentierten, hinterließ einen so tiefen Eindruck wie jenes von der blutigen Revolution.
»Dieses Bild vorhin«, sagte sie, nachdem sie eine Sammlung von Porträts betrachtet hatten.
»Was ist damit?«
»Ehrlich gesagt ist es mir bei keinem meiner früheren Besuche aufgefallen.«
»Und das wundert dich? Die Sterblichen sehen doch immer nur das, was sie sehen wollen, alles andere ist ihnen ebenso gleichgültig wie ihre Schatten. Aber damit betrügt ihr euch nur selbst. Die wirklich wesentlichen Dinge finden im Verborgenen statt. Es hat keinen Sinn, sie zu leugnen.«
Cyn wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Sie war mit Milo in die Nationalgalerie gegangen, weil sie sich keinen anderen Ort hatte vorstellen können, an dem Kunst und Schönheit mehr zu Hause waren als hier. Aber wenn man nicht mehr mit den naiven Augen eines Kindes, sondern mit dem nüchternen Blick eines Erwachsenen darauf sah, so musste Cyn zugeben, dass da nicht nur Schönheit war, sondern auch Grausamkeit. Nicht nur Licht, sondern auch Schatten.
Von Bild zu Bild gingen sie weiter, wanderten durch die Jahrhunderte der Kunst bis in die Gegenwart. Und obwohl die Darstellungen immer genauer und die Techniken der Maler immer ausgefeilter wurden, hatte Cyn das Gefühl, dass sie sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernten. Jeder dieser Künstler hatte seinen persönlichen Eindruck festgehalten, seine Deutung der Wahrheit – sein Bild zu betrachten, bedeutete gleichzeitig auch, die Welt durch seine Augen zu sehen. Und hatte man dies erst
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