Spiel der Schatten (German Edition)
die Decke, streckte die rechte Hand nach Cyn aus – und in ihrem Innersten konnte sie fühlen, wie er sie berührte.
Kälte.
Leere.
»Der Handel gilt«, bekräftigte er.
»Du gibst mir dein Wort darauf?«
»Ja. Aber ich warne dich: Versuchst du, uns zu täuschen, werden die Grimmlinge dir folgen und dich finden. Vor ihnen gibt es kein Entkommen.«
»Ich weiß«, sagte Cyn und blickte zu Boden, um das Grauen zu verbergen, das sie für einen Moment empfand. Als sie wieder aufsah, war der Schatten verschwunden.
»Milo?«
»Ich bin hier.«
Cyn wandte den Blick auf die Puppe, die auf ihrem linken Arm hockte – und erschrak unwillkürlich.
Denn obwohl sie die Puppe von Kindesbeinen an kannte und sie ihr so vertraut war, als würde sie zur Familie gehören, wirkten die hölzernen Züge des Pucks anders als sonst. Obschon sie reglos waren wie immer und die aufgemalten Augen mit leerem Blick starrten, kam ihr der Kobold plötzlich auf eigentümliche Weise lebendig vor …
»Milo?«, fragte sie.
»Ganz recht«, bestätigte der Junge.
Cyn blickte auf den Schatten, den der Puck im spärlichen Licht der Türöffnung warf. Er war etwas zu lang und zu schlank, um zu dem gedrungenen, pausbäckigen Kobold zu gehören, aber das würde niemandem auffallen.
»Ich denke, so wird es gehen«, stimmte Cyn zu. »Vorausgesetzt, du bewegst dich nur dann, wenn ich die Puppe bewege.«
»Glaubst du, das wüsste ich nicht?«
»Natürlich, entschuldige.«
»Worauf wartest du? Lass uns gehen!«
»Die Tür«, brachte Cyn in Erinnerung. »Sie muss noch aufgeschlossen werden.«
In diesem Moment waren draußen auf dem Gang bereits Schritte zu hören, die sich näherten. Dann das Rasseln des Schlosses, als es geöffnet wurde. Die Tür schwang auf, und auf der Schwelle stand der mürrische Theaterdiener, der Cyn zunächst abgewiesen hatte. Die Gesichtszüge des Mannes waren unbewegt und ohne jede Teilnahme – fraglos, dachte Cyn, war auch er ein Diener seines Schattens.
»Lass uns gehen«, sagte Milo.
Und der Puck kicherte leise.
16
ÜBER DEN DÄCHERN
»Nun? Was sagst du?«
Als sie auf den Finsbury Circus hinausgetreten waren, war jenseits der windschiefen Dächer von Smithfield und Spitalfields gerade die Sonne aufgegangen. Der Regen hatte aufgehört, und als hätte er den Nebel, der die letzten Tage zäh in den Straßen gehangen hatte, einfach aus der Luft gewaschen, war ein heller und klarer Morgen über London angebrochen, der mit klirrender Kälte vom nahen Winter kündete. Und plötzlich hatte Cyn gewusst, wohin sie Milo führen wollte, um ihm die Pracht und Schönheit der Menschenwelt vor Augen zu führen.
Es war ein wagemutiges Unterfangen gewesen, denn die Baustelle, die sich westlich der London Docks befand und in diesen Tagen die größte in ganz London war, war für gewöhnlich gut bewacht. Durch eine Lücke im morschen Bauzaun hatte es Cyn jedoch geschafft, sich mit der Puppe unter dem Arm auf das Gelände zu schleichen. Ob die wenigen Arbeiter, die um diese frühe Zeit ihren Dienst versahen, sie nicht gesehen hatten oder es ihnen einfach gleichgültig gewesen war, wusste Cyn nicht zu sagen. Aber es war ihr gelungen, das Gerüst zu erklimmen, das sich an dem erst halb fertigen Gebäude emporrankte. Über eine Reihe von Leitern war sie in schwindelerregende Höhen vorgedrungen, bis auf die oberste Etage.
Eisiger Wind fegte über die provisorische Plattform, sodass Cyn in ihrer Strickjacke erbärmlich fror. Der Ausblick jedoch war atemberaubend.
Unmittelbar am Fuß des erst zu zwei Dritteln fertiggestellten Turmes verlief der Fluss, der sich breit und glitzernd gen Westen wand, gespickt mit Dampfern und Segelschiffen und gesäumt von Lagerhäusern auf der einen und den trutzigen Mauern des Tower of London auf der anderen Uferseite. Jenseits davon erstreckten sich die Häusermassen Londons, von deren unzähligen Schloten und Kaminen dunkle Rauchfahnen in den blauen Himmel stiegen. Inmitten dieses grauen Meeres aus Stein und Rauch ragte zur Rechten eine strahlend weiße Kuppel auf: die Kathedrale von St. Paul, deren Glockenschlag der kalte Wind herübertrug.
»Sag schon, wie findest du es?«, verlangte Cyn noch einmal zu wissen, als Milo nicht antwortete. So befremdlich die Vorstellung war, sich in Begleitung eines Jungen zu befinden, der nur als Schatten existierte und lediglich in ihren Gedanken zu ihr sprach, sosehr half es ihr, den Puck dabeizuhaben. Denn auf diese Weise hatte sie wenigstens ein Gesicht, das
Weitere Kostenlose Bücher