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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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verstanden, begriff man auch, dass sich hinter jeder grauen Wolke, hinter jedem düsteren Gemäuer, hinter jedem bedrohlich wirkenden Baum, ja hinter jedem dunklen Farbton noch eine andere Wahrheit befinden mochte, die sich tief im Inneren des Bildes verbarg und die etwas über denjenigen erzählte, von dessen Hand das Werk entstanden war.
    Als Kind war Cyn dieser Gedanke nie gekommen, nun jedoch ließ er sie nicht mehr los. Hatte Milo recht mit dem, was er sagte? Neigten die Menschen dazu, nur das zu sehen, was an der Oberfläche war? Was sie sehen wollten? Lag die Wahrheit tatsächlich stets im Verborgenen, weil die Menschen einander täuschten und sich mit dem schönen Schein betrogen, so wie sie selbst es bei diesen Bildern getan hatte?
    Nein.
    Abrupt blieb Cyn stehen.
    Nicht alle Menschen waren so.
    Und sie wollte es beweisen.
    »Du hattest nach meiner Mutter gefragt«, sagte sie leise.
    »Ja. Aber du wolltest nicht darüber sprechen. Das ist in Ordnung.«
    »Sie ist an einem Mittwoch gestorben«, eröffnete Cyn unaufgefordert und ohne noch einmal darüber nachzudenken – hätte sie es doch getan, wären ihre Lippen vermutlich versiegelt geblieben. Sie hatte noch nie zu einem Fremden über diese Dinge gesprochen. »Es war ein Unfall.«
    »Was für ein Unfall?«
    »Wie es passiert ist, weiß niemand. Sie wurde von einem Fuhrwerk erfasst und niedergefahren, gleich hinter dem Theater. Den Leuten auf der Straße zufolge hat sich der Kutscher nicht einmal nach ihr umgesehen und ist einfach weitergefahren, er wurde nie gefasst. Ein Nachbar hat meine Mutter dann nach oben gebracht. Ich erinnere mich noch, dass ihre Beine leblos herabhingen wie bei einer Puppe … und da war überall Blut.«
    Cyn war vor einem Bild stehen geblieben und starrte darauf, ohne dass sie hätte sagen können, was zu sehen war. Zumal ihr Tränen in die Augen traten und ihren Blick verschwimmen ließen.
    »Bis auf meinen Vater sind wir alle losgezogen, um einen Arzt zu holen. Einen ganzen Tag lang war ich unterwegs, bin quer durch die Stadt gelaufen, bis zum Hyde Park. Die Häuser wurden immer größer und vornehmer, und die Menschen dort starrten mich an, als wäre ich eine Ratte, die aus dem Kanal gekrochen war. Ich klopfte an die Tür eines jeden Arztes, den ich finden konnte, aber keiner von ihnen half uns. Die meisten ließen mich durch ihre Haushälterin wissen, dass sie keine Zeit hätten. Andere hörten mich an, wollten aber nur gegen Vorauszahlung arbeiten, und ich hatte nur zwei Pence in der Tasche. Also haben sie mich wieder weggeschickt. So ging es weiter, bis es dunkel wurde. Als ich spät abends nach Hause kam, wartete mein Vater bereits auf mich. Er sagte mir, dass meine Mutter bereits am Mittag gestorben wäre, aber niemand wusste, wo ich war.«
    Nun versagte ihr die Stimme.
    Einen Augenblick drohte genau das zu geschehen, wovor sie sich all die Jahre so sehr gefürchtet hatte, weshalb sie über diesen schrecklichen Tag nie wieder ein Wort verloren hatte: Der Schmerz wollte sie überwältigen und in den dunklen Abgrund reißen, in den sie schon einmal gefallen war. Die Tränen brannten heiß auf ihrer Haut, und sie schloss die Augen. Einen Moment hatte sie das Gefühl, der Schmerz würde sie zerreißen – aber dann war es vorbei.
    Cyn schlug die Augen auf und stellte überrascht fest, dass ihre Tränen versiegt waren. So groß die Überwindung gewesen war, über diese Dinge zu sprechen – sie fühlte sich besser, nun da sie es getan hatte. Die Vergangenheit hatte keine Macht mehr über sie.
    »Langsam verstehe ich«, sagte Milo leise. »Deshalb also willst du deinen Vater unbedingt retten.«
    Cyn nickte nur.
    Noch eine Weile blieben sie vor dem Bild stehen, das, wie sie jetzt erkannte, eine von Bäumen gesäumte Allee zeigte.
    »Weißt du was?«, meinte Milo unvermittelt. »Ich habe allmählich genug vom Bilderansehen. Hast du Hunger?«
    Cyn sah den Puck verblüfft an. Jetzt da Milo es sagte, spürte sie tatsächlich, wie leer ihr Magen war, schließlich hatte sie seit dem Vorabend nichts gegessen. »Ein bisschen schon.«
    »Dann lass uns etwas zu essen besorgen«, schlug der Junge vor, und Cyn widersprach nicht. Die Bilder, die Säle, das ganze Museum brachten ihr nicht mehr den Trost, den sie als Kind dort gefunden hatte.

18
    APFELKUCHEN
    An der Straße, die zwischen dem Trafalgar Square und dem imposanten Gebäude der Nationalgalerie verlief, hatten zahlreiche Kuchenverkäufer und Costermonger ihre Stände aufgebaut. Von

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