Spiel der Schatten (German Edition)
sie ansehen und Augen, in die sie schauen konnte, auch wenn diese bloß aufgemalt und das Gesicht aus Holz geschnitzt war. »Ist dieser Anblick nicht überwältigend?«
»Für Menschen vielleicht«, räumte Milo ein. »Für mich ist er nur ein weiterer Beweis dafür, wie die Menschen versuchen, sich selbst unsterblich zu machen.«
»Was meinst du damit?« Cyn schüttelte verständnislos den Kopf und deutete mit der freien Hand zur anderen Flussseite, wo eine exakte Kopie des Turmes in die Höhe wuchs. »Wenn diese Brücke erst fertiggestellt ist, wird sie die größte und fortschrittlichste der ganzen Welt sein! Ein riesiger dampfbetriebener Mechanismus wird dafür sorgen, dass sie sich öffnet, wann immer große Schiffe den Fluss herabkommen.«
»Und das nennst du Fortschritt?«, fragte Milo keck. »Erwartest du wirklich, dass mich das beeindruckt?«
»Nun, ich dachte …«
»Schon die alten Ägypter haben ihre Pyramiden immer noch größer und höher gebaut – heute verrotten sie im Wüstensand und taugen nur noch als Kulisse im Theater.«
Cyn war klar, dass er auf die Bühnendekoration im Caligorium anspielte. Da er die meiste Zeit im Theater verbrachte, stammte sein Wissen wohl größtenteils von dort.
Genau wie bei ihr selbst …
»Dennoch sind es erstaunliche Leistungen von uns Menschen«, beharrte sie, »die Pyramiden ebenso wie diese Brücke hier. Und die Aussicht von hier oben ist atemberaubend.« Sie trat bis ans äußerste Ende der Plattform und ließ ihren Blick vom fernen Horizont in die senkrechte Tiefe schweifen. Eine Reihe kleinerer Frachtschiffe hatte am Ufer festgemacht, die neues Baumaterial brachten und entladen werden mussten. Fuhrwerke und Ochsenkarren wurden herangeführt, die Kräne am Kai nahmen dampfend und rasselnd ihre Arbeit auf.
»Atemberaubend, in der Tat«, stimmte Milo zu. »Es stinkt zum Davonlaufen!«
»Es stinkt? Ich denke, du kannst nichts riechen?«
»Ich meine nicht den Geruch«, widersprach der Junge. »Ich meine die Furcht der Menschen. Ihr Elend. Ihre Not. Von hier oben ist sie zwar nicht zu sehen, aber trotzdem ist sie da. Überall steigt sie aus den Gassen auf wie erbärmlicher Gestank und verpestet nicht nur diese Stadt, sondern die ganze Welt.«
»Zugegeben, diese Dinge gibt es«, räumte Cyn ein. »Niemand weiß das besser als ich. Aber trotzdem gibt es auch Gutes in der Welt der Menschen.
»Und um mir das zu zeigen, hast du mich hier raufgeschleppt?«
Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, kam es Cyn vor, als würde der Puck verächtlich grinsen – vielleicht lag es auch an dem Schatten, der sich für einen Moment auf die hölzernen Züge des Kobolds legte.
Sie kam sich ertappt vor, denn wenn sie ehrlich war, hatte sie tatsächlich gehofft, Milo zu beeindrucken. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass Menschen aus aller Welt nach London kamen, um das neue Bauwerk zu bestaunen, dem man den Namen »Tower Bridge« gegeben hatte. Folglich hatte sie angenommen, dass auch ein Junge, den sie für angeberisch und oberflächlich hielt und der offenbar nichts anderes kannte als das Innere eines Theaters, davon fasziniert sein würde, womöglich so sehr, dass er ihren Vater darüber freiließ.
Ein Irrtum, wie sie nun feststellen musste, und plötzlich kam sie sich dumm und einfältig vor. »Es … es tut mir leid«, sagte sie und senkte den Blick. »Ich habe dich unterschätzt.«
»Du bist genau wie alle anderen Menschen«, war Milo überzeugt. »Ihr seht immer nur das, was ihr sehen wollt. Vor dem Elend, das ihr selbst verschuldet habt, vor Leid und Schmerz, vor allem, was im Schatten liegt, verschließt ihr die Augen.«
»Was?« Cyns Empörung war so groß, dass sie für einen Moment alle Zurückhaltung vergaß. »Und das sagst du ausgerechnet mir? Nachdem sich das Leben, das ich kannte und liebte, in Nichts aufgelöst hat? Nachdem mir alles genommen wurde? Zuerst meine Mutter, dann meine Arbeit und mein Zuhause, und zuletzt auch noch mein über alles geliebter Vater? Wie kannst du behaupten, ich wüsste nicht, was Schmerz ist? Ich dachte, du hättest in mein Innerstes geblickt?«
»Nun, ich …«
»Es mag dumm und naiv von mir gewesen sein, dich an diesen Ort zu schleppen«, fiel Cyn ihm mit vor Ärger bebender Stimme ins Wort, »aber wenn du mich danach beurteilst, dann bist du es, der seine Augen vor der Wirklichkeit verschließt!«
Die Worte verklangen, und Schweigen kehrte auf der Turmplattform ein. Nur noch das leise Heulen des Windes war zu hören
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