Spiel der Schatten (German Edition)
und Milo wieder zurück in den Zuschauerraum – um sich inmitten eines ebenso unheimlichen wie bizarren Schauspiels wiederzufinden.
26
SCHATTENTANZ
Ein Sturm schien im Theater zu toben!
Heftiger Wind schlug Cyn und Milo entgegen, der ihr Haar zerzauste und an ihren Kleidern zerrte. Wild fegte er an den Wänden entlang und über die Sitzreihen und Balkone hinweg, drehte sich in einem mächtigen Wirbel, der seinen Ursprung auf der Bühne zu haben schien – genau dort, wo die Laterne die Beplankung der Bühne durchschlagen hatte. Eine trichterförmige, grünlich leuchtende Windhose stieg von dort auf, die das gesamte Theater erfasst hatte und nicht nur Papierfetzen, Holzsplitter und anderen Unrat umherwirbelte, sondern auch die Schatten!
Die unzähligen Schemen, die zuvor die Sitzreihen bevölkert hatten, um Cyns Verwandlung in ihresgleichen zu verfolgen, waren von dem geheimnisvollen Strudel ergriffen worden. Cyn konnte ihre Schreie hören und ihr Wehklagen, so als würden sie fürchterliche Qualen erleiden, und immer wieder hatte sie das Gefühl, in dem aus verschwommenen dunklen Schleiern bestehenden Trichter hier und dort Einzelheiten auszumachen – die Silhouetten von Händen, die verzweifelt nach einem Halt zu suchen schienen, von Gesichtern, deren Münder zu Schreien aufgerissen waren, von grotesk verzerrten Gliedmaßen.
Doch sosehr der Sturm tobte und so entsetzlich die Qualen auch zu sein schienen, die die Schatten litten – das Leuchten, das unter der Bühne hervordrang, schien schwächer zu werden.
»Die Macht der Laterne!«, schrie Milo gegen das Tosen und die Schreie an. »Sie ist gebrochen! Die Schatten versuchen, sich von ihr zu befreien!«
Gegen den Widerstand des Windes und die Hände schützend vor den Gesichtern schlugen sie den Weg zur Bühne ein, um das Caligorium über den einzigen Fluchtweg zu verlassen, der ihnen noch blieb – den Bühnenausgang. Dass sie dafür noch einmal in die düsteren Katakomben des Theaters eindringen mussten, behagte Cyn nicht, aber ihr war klar, dass ihnen keine andere Möglichkeit blieb, wenn sie dem brausenden Inferno entkommen wollten.
Sie hatten die Bühne noch nicht ganz erreicht, als das grüne Licht zu flackern begann wie eine Kerze im Wind. Im einen Moment erhellte unsteter grüner Schein den Zuschauerraum, im nächsten Augenblick versank er in Dunkelheit. Cyn kam es vor, als würde sich ein unwirkliches Unwetter im Theater entladen, mit grünen Blitzen, hölzernen Hagelkörnern und begleitet vom Donner des nebenan tobenden Feuers. Ein künstlicher Hurrikan, wie ihn die vornehmen Theater an der Drury Lane vergeblich auf die Bühne zu zaubern suchten – selbst im Untergang war das Caligorium noch immer Schauplatz vollendeter Illusionen.
In geduckter Haltung eilten Cyn und Milo weiter, dem Auge des Hurrikans entgegen – denn genau dorthin mussten die beiden, wenn sie hinauswollten. Umtanzt von Schatten, die sich zwischen der Macht der Lampe und ihrer früheren Existenz zerrissen fühlten, erreichten sie den Niedergang, der unter die Bühne führte, und polterten die hölzernen Stufen hinab. Von den Theaterdienern war nichts mehr zu sehen. Sich einander fest an den Händen haltend hasteten die beiden durch das Chaos, das unter der Bühne herrschte. Der Sturm hatte Kisten, Farbtöpfe, Requisiten und vieles andere wild durcheinandergeworfen. Und inmitten all der Verwüstung lag die laterna magica .
Cyn und Milo konnten nicht anders, als stehen zu bleiben und auf die Laterne zu starren, die wie ein gestrandetes Wrack von Trümmern umgeben war. Die metallene Hülle war geborsten, viele ihrer Augen wiesen Sprünge auf, sodass sich das flackernde Licht schillernd darin brach. Und durch die Öffnungen, die durch den Aufprall in der verformten Kugel entstanden waren, drangen Schwaden wie von dunklem Rauch, die sich zu konkreten Schatten verdichteten, ehe sie vom Wind erfasst und nach oben gerissen wurden.
Milo hatte also recht gehabt.
Die Macht der Laterne war gebrochen, und die Schatten, die in ihrem Inneren gefangen gewesen waren – es mussten Tausende sein – strebten danach, ihr zu entkommen. Unter Brausen und Heulen, das hundertfach in Cyns Bewusstsein widerhallte, verflüchtigten sie sich und verschwanden. Was mit ihnen geschah, konnte Cyn nur vermuten, aber sie hoffte, dass …
»Verraten hast du mich! Mein eigen Fleisch und Blut!«
Cyn fuhr herum. Sie hatte die Stimme von Umberto Caligore sofort erkannt – doch wie war das möglich? Hatte
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