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Spiel Der Sehnsucht

Spiel Der Sehnsucht

Titel: Spiel Der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
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würde der Junge seinerseits einen Haufen rückgratloser Ebenbilder seiner selbst zeugen, und der Kreislauf würde sich fortsetzen.
    Ivan wollte nicht in Selbstmitleid versinken. Der Nachmittag lag vor ihm, und er mußte eine Menge Energie loswerden. Und nachdem er das bei dieser süßen, scharfzüngigen Miss Drysdale nicht konnte, würde er eben zur Fall Mall hinübergehen und sich ein williges Flittchen suchen.
    Allerdings, so fiel ihm ein, hatte er das schon versucht, und es war nicht sehr befriedigend gewesen. Besser war, zum Mayfair Athletic Club zu gehen. Sicher fand sich jemand im Boxring, der gewillt war, über drei Runden mit ihm zu gehen.
    Solange er die mißtrauische Miss Drysdale nicht ein-gefangen hatte, mußte er zusehen, wie er seine überschüssigen Energien auf andere Weise loswerden konnte.
    Irgendein ahnungsloser junger Lord im Boxring würde ihm jetzt gerade zupaß kommen.

10
    Lucy fühlte sich im siebten Himmel. Sie und Valerie waren aus dem Haus gekommen, ohne Ivan über den Weg zu laufen. Ohne Zwischenfall waren sie zu dem Gebäude gelangt, in dem die Vorlesungen stattfanden, und jetzt, in wenigen Minuten, würde sie endlich Sir James Mawbey sehen und seinen brillanten Ausführungen lauschen können.
    Valerie blickte um sich. »Es sind mehr Menschen da, als ich erwartet hatte«, meinte sie.
    »Menschen von ganz anderer Art als die, mit denen wir letzthin Umgang hatten«, gab Lucy zurück. Als sie ihre Eintrittskarten gelöst hatten und die Fatuielle Hall betraten, mischten sie sich tatsächlich unter ein besonderes Publikum. Zu einem großen Teil bestand die Zuhö-
    rerschaft aus Menschen mittleren oder höheren Alters: dunkel gekleidete Graubärte und ordentliche Matronen.
    Aber es gab noch andere: Gelehrte mit ernsten Gesich-tern, billigen Gehröcken und abgeschabt glänzenden Hosen; Ladenbesitzer in ihren praktischen Überziehern, Kaufleute in schweren Stiefeln. Einige vornehme Damen, die durch die Qualität ihrer Kleidung auffielen, hatten sich ebenfalls eingefunden.
    Lucy stellte fest, daß sich ihr ein interessanter Quer-schnitt durch die britische Bevölkerung bot. Sie konnte kaum ihre Aufregung meistern.
    »Dauert es lange?« fragte Valerie.
    »Es müßte bald beginnen«, antwortete Lucy, während sie sich auf ihre Sitze in der ersten Reihe niederließen.
    »Nein, ich meinte, ob die Vorlesung sehr lange dauern wird.«
    Lucy blinzelte zu Valerie hinüber. »Ich vermute, Sie waren nicht gerade versessen auf Ihre Schulstunden.«
    Valerie lächelte entschuldigend. »Geschichte und Rechnen waren langweilig. Aber ich lese gerne, besonders Romane.«
    »Wahrscheinlich haben Sie nie etwas von einem Autor wie James Mawbey gelesen. Ich jedenfalls hatte nie etwas so Erhellendes gelesen, bis ich auf seine Artikel gestoßen bin.«
    Doch nun betrat Sir Mawbey die Bühne, und Valerie war vergessen. Er war da, und Lucy befand sich mit ihm im selben Raum.
    Er war - genau, wie sie ihn sich vorgestellt hatte - von mittlerer Größe, obwohl er durch seine Überschlankheit größer wirkte, hatte dunkles, wirres Haar und einen langen Backenbart, den er wohl trug, so vermutete Lucy, um älter zu wirken. Denn er war jünger, als sie gedacht hatte.
    Ob er verheiratet war?
    Sir James blickte in sein Publikum. »Das Erstgeburtsrecht ist in unserem geliebten Land, wie in ganz Europa, der Hauptgrund für familiäre Zwistigkeiten«, verkündete er. Mit dieser flammenden Behauptung begann er einen einstündigen Diskurs, der gelegentlich durch ein unwilliges Gemurmel oder auch beifälliges Klatschen seiner Zuhörer akzentuiert wurde.
    Ob das Publikum seinen Thesen nun zustimmen oder sie ablehnen mochte, es bestand jedenfalls kein Zweifel daran, daß das Wohl und Wehe von Kindern ihm zutiefst am Herzen lag. »Von dem Augenblick an, in dem sie in diese harte Welt hineingeboren werden, lernen sie, wessen Arme weich und warm sind und wessen nicht; wer für ihre Ernährung und Unterkunft sorgt und wer nicht; wem sie vertrauen können - und hier kommen wir auf den Punkt.«
    Er hielt inne und blickte eindringlich auf sein Publikum. »Sie lernen, wem sie nicht vertrauen können. Allzu-oft lernen sie, daß man niemandem vertrauen kann: nicht den Eltern, die sie zum Wohl der älteren Söhne verraten, nicht den Geschwistern, die nur darauf aus sind, selbst soviel wie möglich zu ergattern. Was also wird aus ihnen?«
    Sir James lehnte sich über das Rednerpult, und seine dunklen Augen glühten fanatisch. Lucy bebte, als dieser

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