Spiel Der Sehnsucht
wie eine Törin, wenn es um ihn ging.
Logik, das war der Schlüssel. Sie richtete sich auf, faltete Sir James' Brief zusammen und legte das ganze Bündel neben sich. Anstatt sich ihren Emotionen auszulie-fern, mußte sie sich vor Augen führen, aus welchen Ver-nunftgründen Ivan für sie selbst genauso unpassend war wie für Valerie.
Er war unaufrichtig. Das war der Hauptgrund.
Er war maßlos. Diese Maßlosigkeit reichte von dem maßlos auffälligen Ohrring bis zu dem maßlos unziemli-chen Geschenk, das er ihr gemacht hatte.
Er war viel zu reich für eine Frau wie sie und viel zu gutaussehend. Und er war zerfressen von Verbitterung wegen seiner unglücklichen Vergangenheit.
Sie hatte seine unvorteilhaften Eigenschaften treffend aufgezählt, bis auf die letzte. Er war von Verbitterung zerfressen, doch man konnte ihm das nicht verübeln, denn er hatte offensichtlich eine elende und einsame Kindheit gehabt.
Andererseits, wäre sein Leben bei einer nomadisieren-den Zigeunersippe besser gewesen?
Lucy starrte auf die Rhododendronbüsche, ohne sie wahrzunehmen. Sie hatte bisher nie darüber nachgedacht, wie Zigeuner lebten. Sie vermutete jedoch, daß Zigeunereltern ihre Kinder ebenso liebten wie jeder normale britische Bürger. Und man mußte davon ausgehen, daß für das Aufziehen von Kindern Liebe das Wichtigste war, wichtiger als Sprache, Kleidung, Kultur, wichtiger sogar als Religion.
Sie erkannte plötzlich, für wie selbstverständlich sie immer das Vorhandensein ihrer eigenen Familie gehalten hatte und wie kritisch und ungeduldig sie dieser Familie gegenüber oft gewesen war. Sie schwor sich, nie wieder so undankbar zu sein.
Doch das brachte sie einer Klärung ihrer Gefühle zu Ivan nicht näher. Wenn er während der ersten Jahre, die er in der Obhut seiner Mutter verbracht hatte, geliebt worden war, so hatten ihm die folgenden Jahren um so grausamer erscheinen müssen.
»Was gäbe ich nicht darum, den Grund für dieses Stirnrunzeln zu erfahren!«
Lucy fuhr zusammen und blickte auf. Genau vor ihr stand ein Mann. Ivan! Sofort errötete sie bis an die Haar-wurzeln.
Und warum? Sie errötete doch sonst nicht so leicht.
Weshalb war er überhaupt hier?
»Woran dachten Sie?« fragte er weiter, als sie nicht antwortete und ihn nur blöde anstierte. »Darf ich hoffen, daß Ihre Gedanken mir galten?«
»Nein, ich habe überhaupt nicht an Sie gedacht«, log Lucy. Dann hatte sie Gott sei Dank ihren Verstand wieder unter Kontrolle. »Sind Sie mir gefolgt?«
Ivan lächelte auf sie herab und sah dabei in seinem dunkelblauen Gehrock, seiner gestreiften Weste und seiner eleganten Halsbinde unerhört gut aus. »Wie Sie wissen, bin ich kein Langschläfer. Genau wie Sie finde ich einen Spaziergang im Park eine angenehme Weise, den Tag zu beginnen.«
»Ich kam hierher, um in Ruhe nachdenken zu können.«
»Und um alte Briefe zu lesen, wie es scheint.« Er deutete auf das Bündel neben ihr. »Liebesbriefe?«
»Das geht Sie nun wirklich nichts an«, entgegnete Lucy. Sie nahm die Briefe und steckte sie so gleichgültig wie möglich in ihren Beutel. Sie hatte nicht daran gedacht, daß Ivan diese Handlung als Einladung miß-
deuten könnte, sich neben sie auf die Bank zu setzen.
Und er setzte sich viel zu nah neben sie, als daß sie hätte ruhig bleiben können.
Sie wollte sich erheben, doch er hielt sie am Arm zurück. Sein Griff war weder grob noch schmerzhaft, aber trotzdem unnachgiebig.
Lucy blickte auf seine behandschuhten Finger und versuchte das Rasen ihres Pulses unter Kontrolle zu bringen.
Langsam hob sie ihre Augen. »Sie können sich nicht ununterbrochen derartig gegen mich benehmen. Es gehört sich nicht, und ich werde es nicht dulden.«
Er grinste. »Wie wollen Sie es verhindern?«
»Als erstes werde ich Ihnen das Schultertuch zurückgeben, das Sie in mein Zimmer gelegt haben.«
»Ach, jemand hat ein Tuch in Ihr Zimmer gelegt?«
staunte Ivan mit so unschuldsvoller Miene, daß Lucy ihm fast hätte glauben können.
»Necken Sie mich nicht. Ich werde Ihnen den Schal zurückgeben, und Sie geben mir dafür meinen alten wieder.« Erfolglos versuchte sie, ihren Arm aus seinem Griff zu befreien. »Lassen Sie mich los, Lord Westcott!« verlangte sie.
»Nennen Sie mich doch Ivan.«
»Nein.« Wieder versuchte sie sich ihm zu entwinden.
»Falls ich es gestern abend nicht erwähnt haben sollte - Sie tanzen sehr gut«, sagte Ivan unbekümmert.
»Sie sind gewiß nicht hergekommen, um über den Ball zu
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