Spiel Der Sehnsucht
feurige Blick über sie und Valerie hinwegglitt und dann auf ihnen ruhen blieb, wie schon einige Male während der Vorlesung. »Aus einem solchen ungeliebten Kind wird ein Erwachsener ohne Gefühl dafür, was es heißt, zu lieben oder geliebt zu werden. Dieser Erwachsene erzieht wiederum Kinder nach seinem eigenen Muster: der älteste Sohn verwöhnt und verzogen, bis er zum selbstsüchtigen Monstrum wird. Der nächstjüngere wird dadurch wie von selbst zum eifersüchtigen Neider und die weiteren Geschwister werden völlig übergangen, außer wenn sie durch ihr erschreckend schlechtes Benehmen die Eltern dazu zwingen, ihnen doch gelegentlich etwas Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.«
Sir James trat einen Schritt vom Pult zurück. »Beim nächsten Mal werde ich genauer erklären, wie die Eltern die Fallgruben vermeiden können, deren es bei der heutigen Kindererziehung leider zu viele gibt.«
Er ging von der Bühne, noch ehe der Applaus ver-klungen war. Sofort war er von Bewunderern und Fragenden umlagert. Auch Lucy wollte sich diesem Kreis anschließen, war aber anfangs zu sehr von Ehrfurcht gebannt, um sich zu bewegen.
»War er nicht wundervoll?« hauchte Valerie neben ihr.
Lucy nickte, die Augen fest auf den kaum sichtbaren Kopf ihres Idols geheftet. »Ja, das war er. Hatte ich es Ihnen nicht versprochen?«
Valerie stand auf und schüttelte ihre Röcke zurecht, ohne dabei die Menge um Sir James aus den Augen zu lassen. »Sollen wir zu ihm gehen und mit ihm reden, Miss Drysdale? Was halten Sie davon? Können wir? Ich denke, wir sollten es tun.«
»Und sollen wir auch seine folgenden Vorlesungen besuchen?« fragte Lucy lächelnd zurück. Doch Valerie gab keine Antwort mehr, sondern eilte schon vor Lucy her auf den Kreis zu, der den charismatischen jungen Gelehrten umgab.
Valeries komische Eile gab Lucy die Zeit, sich zu sammeln, bevor sie den Mann traf, mit dem sie seit eineinhalb Jahren korrespondierte.
Sie stand auf und strich die Knitter und Falten aus ihrem Rock. Als sie nach ihrem Beutel langte, fühlte sie das schmale Bündel Briefe. Er hätte mir sicher nicht geschrieben, wenn er unzugänglich wäre, sprach sie sich selbst Mut zu. Bestimmt würde Sir James sich freuen, sie zu sehen, und sich sogar geschmeichelt fühlen. Sie würden eine Unterhaltung beginnen, die ebenso leicht und ungezwungen sein würde wie die Briefe, die sie ausge-tauscht hatten.
Wohin das dann führen sollte, wußte Lucy natürlich nicht, doch sie gestattete sich die Freiheit eines kleinen Gedankenspieles.
Nur wenige Ehen wurden aus Liebe geschlossen.
Besitz und Abstammung zählten mehr in dieser Gesellschaft, wenn es darum ging, eine vorteilhafte Partie zu machen. Doch für Lucy waren Besitz und Abstammung nie von Bedeutung gewesen, und dasselbe mußte für Sir James gelten. Gegenseitiger Respekt, Bewunderung und gleichgelagerte Interessen waren weitaus stärkere Garan-ten für das Gelingen einer Ehe. Und sie und Sir James waren mit diesen Eigenschaften selbstverständlich großzügig ausgestattet.
Aber Sir James erregte ihre Gefühle nicht so wie Ivan Thornton.
Lucy verschluckte einen groben Fluch wegen ihrer lüsternen Gedanken. Wie konnte sie gerade hier und jetzt an so etwas denken? Die Empfindungen, die Ivan in ihr weckte, konnten sie nur ins Verderben führen. Doch was sie für Sir James Mawbey fühlte, konnte ein Leben lang halten.
Sie stellte sich vor, wie sie beide in seiner Bibliothek -
ihrer beider Bibliothek - saßen und lasen, bedeutende Gedanken hegten und tiefsinnige Gespräche bei einer Tasse Tee führten.
Ja, das war genau die Zukunft, die sie erstrebte. Dafür war sie nach London gekommen. Keinesfalls wollte sie sich durch müßige Betrachtungen über Ivan Thornton von ihrem Ziel abbringen lassen.
Als der Menschenauflauf um Sir James sich ein wenig zu lichten begann, holte sie tief Luft und ging auf ihn zu.
Valerie hatte es bereits geschafft, sich einen Platz direkt vor ihm zu erobern. Wenn Lucy sich nicht beeilte, würde das Mädchen sich ihm selbst vorstellen, und das ging nun wirklich nicht. Schlimm genug, daß Lucy sie beide vorstellen mußte. Doch zumindest war sie älter als Valerie, so daß eine Vorstellung, besonders unter dem Blick-punkt, daß sie bereits korrespondiert hatten, nicht zu vorlaut wirken würde. Ein Kind wie Valerie jedoch würde mit ihrem Enthusiasmus den Eindruck erwecken, sie hege ein unziemliches Interesse an dem Mann.
Lucy stellte sich also neben Valerie und nahm sie am Arm,
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