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Spiel des Lebens 1

Spiel des Lebens 1

Titel: Spiel des Lebens 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Etzold Veit
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wenn sie Stresssituationen erleben, die sie eigentlich vollkommen überfordern sollten. In solchen Momenten scheinen die Psyche und der Körper jene Reserven zu heben, die seit dem Urbeginn der Zeiten dazu geführt haben, dass die menschliche Rasse seit ihrem Erscheinen auf dieser Erde nicht nur alle anderen Lebewesen überlebt, sondern sogar besiegt hatte.
    Sie ließ sich von der Chancery Lane bis zur Station Bank fahren, und von dort war sie in die DLR , die Dockland Light Railway, gestiegen, die sich nun, surrend und computergesteuert, durch die Docklands im Osten Londons schob.
    Der Wagen, in dem sie saß, war halb leer. Emily versuchte, die Leute nicht anzustarren, obwohl es ihr schwerfiel. Jeder, der ihr auch nur einen flüchtigen Blick zuwarf, konnte der unheimliche Anrufer sein, jeder, der sich allzu langsam hinter ihr bewegte, ein möglicher Verfolger oder Mörder, der sie nicht aus den Augen verlieren wollte.
    Denn das war doch die logische Schlussfolgerung von dem, was passiert war. Er ließ sie keinen Moment aus den Augen, wusste immer, wo sie war.
    Oder?
    Wurde sie allmählich wahnsinnig? War sie paranoid? Man ist nicht paranoid, solange man weiß, dass es jemand auf einen abgesehen hat. Denn nur die Paranoiden überleben. Das hatte ihr Vater einmal gesagt, nur hatte er diesen Ausspruch eher auf die Halsabschneiderwelt und den mörderischen Wettbewerb im Investmentbanking bezogen. Dass seine kleine Tochter einmal von jemandem verfolgt werden würde, dem es nicht um ihren Job und ihre Position, sondern um ihr Leben ging, hätte er sich wohl nie träumen lassen.
    Sie schaute auf ihr Handy, schaute auf die drei Anrufe ihrer Mum, die sie schon weggedrückt hatte, ihre Mum, die wahrscheinlich voller Panik die Bibliothek durchsuchte. Natürlich war es gefährlich, einfach so allein loszulaufen, doch noch viel gefährlicher war es, nicht das zu tun, was der Anrufer von ihr wollte. Sie würde es ihr erklären, nachher, aber jetzt konnte sie nicht sprechen, was hätte sie auch sagen, was hätte sie schreiben sollen?
    Mum, ich sterbe, wenn ich dich anrufe?
    Blicklos starrte sie aus dem Fenster, wo die Docklands an ihr vorbeizogen. Bis in die Achtzigerjahre war die Gegend ein Arbeiterviertel gewesen, bis Margaret Thatcher, die eiserne Lady, den Bezirk mit eiserner Hand in einen von Stahl und Glas blitzenden Büro- und Bankendistrikt verwandelt hatte.
    Der Zug legte sich in die Kurve, und Emily rutschte ein Stück zur Seite. Sie wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass die DLR schneller fuhr oder langsamer.
    Bald erreichten sie die etwa vier Meter hohen Schienentrasse Richtung Greenwich, die zwischen alten Backsteinhäusern und früheren Industriesiedlungen hindurchführte, während sich im Hintergrund, vor dem Licht der orangen Nachmittagssonne, Canary Wharf aufbaute, mit seinen teuren Lofts, seinen italienischen Nobelrestaurants, über denen sich, wie stumme Riesen, die Bürogebäude der Banken türmten.
    Es war Samstagnachmittag, die Leute freuten sich auf den Fortgang des Wochenendes, und sie saß allein in der DLR , unterwegs zu einem Ort, zu dem sie nicht wollte, aber musste; kontaktiert von einem Menschen, den sie nicht kannte, aber fürchtete; angetrieben von einem Foto eines Mordes und mit einem Bild, das wie ein Dämon in ihrem Kopf saß.
    Wie konnte das alles nur so schnell geschehen sein? Sie hatte sich erhofft, mit dem Studium einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, und als sie vorgestern durch das Eingangstor des King’s College gegangen war, da war es ihr so gewesen, als würde ihr Mut belohnt werden, als würde sich ihr tatsächlich eine neue Welt öffnen. Doch wo immer ein Tor in eine neue Welt führte, da war eine Schwelle, die man überschreiten musste. Und da war sie wieder, diese blecherne Ansage aus der U-Bahn, sich genau vor dieser Schwelle in Acht zu nehmen. Mind the gap! Denn diese neue Welt war eine andere, und sie hatte so wenig mit ihrer alten Welt zu tun wie die Wolkenkratzer von Canary Wharf mit der alten Londoner Innenstadt, diese riesigen Monolithen, die sich genauso drohend vor ihr aufbauten wie die Schrecken und Albträume in ihrer Seele.
    Alles sah aus wie immer, aber doch anders.
    Was erwartete sie an ihrem Ziel? Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie als Kind in den riesigen Millennium Dome mitgenommen und ihr erklärt hatte, dass das neue Jahrtausend in London – genau genommen in Greenwich beginnen würde, weil in Greenwich der absolute Nullpunkt der Zeit war, der

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