Spiel des Lebens 1
zehn Meter entfernt, die gerade noch in eine Liste vertieft gewesen war und Emily jetzt böse anfunkelte.
Endlich hatte sie das Handy in ihrer Tasche gefunden. Es klingelte noch immer. Eine unbekannte Nummer. Sie drückte auf »Ablehnen«, das Handy verstummte sofort.
Emily setzte sich. Atmete tief ein und aus. Die Frau am Informationsschalter blickte wieder in ihre Liste.
Es vergingen vier Sekunden.
Dann vibrierte das Handy.
Eine SMS .
Sie konnte nicht anders. Sie klickte auf den Nachrichteneingang. Es schien die gleiche unbekannte Nummer von eben zu sein. Darin nur sechs Worte.
DAS SPIEL DES LEBENS BEGINNT JETZT.
Sie hörte wieder das Pfeifen in ihren Ohren, wie vorgestern auf der Toilette, als sie die Leuchtschrift gesehen hatte.
Es war keine wirkliche SMS , es war eine MMS , eine SMS mit Anhang.
Es war ein Foto angehängt.
Alles sagte ihr, den Anhang nicht zu öffnen, stattdessen sofort zur Polizei zu gehen, das riet allein der logische Menschenverstand. Das Problem war nur, dass sie wissen musste, was auf dem Foto war, sonst würde sie auf der Stelle wahnsinnig werden.
Sie fühlte Schweiß, der ihren Körper bedeckte wie ein Film aus Angst und Schmerz. Die Prellung an ihrem Kopf pochte, als wollte da irgendetwas heraus, als wollte ihr Körper die Furcht, die in ihm wohnte, wie einen Dämon austreiben.
Sie wählte den Anhang aus, und das Foto öffnete sich.
Auf dem Bild war ein Mann zu sehen, gefesselt auf einem Stuhl, um ihn herum Kabel. Das Gesicht kam ihr ganz vage bekannt vor, doch sicher war sie nicht. Auch konnte sie den Mann nicht genau erkennen, denn irgendwas hatte er auf dem Kopf, es sah ein wenig aus wie eine Mütze. Sein Mund war mit Klebeband geknebelt. Doch so schlimm dieses Bild des gefesselten Mannes war, der sie an irgendjemanden erinnerte, noch schlimmer war das, was sie hinter ihm entdeckte.
Das Bild, das großformatig und gerahmt an der Wand hinter dem Stuhl hing.
Das Bild, dessen Inhalt sich die letzten Tage mehrfach mit glühenden Buchstaben in ihr Bewusstsein gebrannt hatte.
Die Sternennacht von Vincent van Gogh.
In diesem Augenblick vibrierte das iPhone noch einmal und die nächste SMS war im Posteingang.
Sie tippte hektisch auf die Nachricht.
WENN DU HILFE HOLST, IST ER TOT. WENN DU SCHREIST, IST ER TOT. WENN DU NICHT BEIM NÄCHSTEN MAL ANS TELEFON GEHST, IST ER TOT.
Sie versuchte, den Schrei in ihrem Inneren zu unterdrücken, ihn nicht herauszulassen, während sie panisch zu dem Informationsschalter blickte, wo die Frau noch immer in ihre Liste vertieft war, als wäre nichts gewesen. Sie packte das Handy, wollte gerade eine SMS zurückschreiben, dass sie allen Anweisungen Folge leisten würde, natürlich würde sie das tun, als der Apparat schon wieder vibrierte. Diesmal keine SMS , diesmal ein Anruf. Wieder mit einer anonymen Nummer wie vorhin.
»Hallo.« Sie nahm den Anruf an und ging einige Meter die Regalreihen entlang, in die Tiefe der Sammlung von Chancery Lane.
»Emily«, sagte eine Stimme. Sie hatte einen angenehmen, warmen Klang, auch wenn sie ihr ein Hauch künstlich erschien. »Wie schön, mit dir zu sprechen.«
Sie gab keine Antwort, aber die Stimme schien das auch gar nicht erwartet zu haben.
»Willkommen zum Spiel des Lebens«, fuhr die Stimme fröhlich fort, bevor sie einen Tick schärfer wurde. »Du wirst genau zuhören und dir die Regeln einprägen. Sie sind ganz einfach. Erstens: Du wirst ein Rätsel hören und hast für die Antwort zwanzig Sekunden Zeit. Löst du das Rätsel nicht in den zwanzig Sekunden, stirbt unser Van-Gogh-Freund auf dem Stuhl. Zweitens: Du wirst die ganze Zeit am Telefon bleiben. Solltest du auflegen, stirbst auch du. Drittens: Solltest du Hilfe holen, sterbt ihr beide. Hast du mich so weit verstanden?«
»Ja«, sagte sie nur, und es klang so tonlos, als hätte sie das Wort eher gedacht als gesprochen.
»Du bist ein kluges Mädchen«, lobte die Stimme, und fast so etwas wie Stolz klang daraus hervor. »Ich hätte es auch gar nicht anders von dir erwartet.«
Es folgte eine kleine Pause. »Also pass schön auf.«
Die Stimme lachte leise, und dann fing sie an, einen Text zu zitieren, offenbar ein Gedicht, sie sprach deutlich, aber auch recht schnell, zu schnell jedenfalls, um sich alles davon merken zu können.
Trotzdem schlugen die einzelnen Sätze, die die leicht künstliche Stimme von sich gab, wie Hammerschläge in Emilys Bewusstsein ein:
»Three Poets, in three distant ages born,
Greece, Italy, and England did
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