Spiel des Lebens 1
zurück ins Studentenwohnheim. Das lasse ich einfach nicht zu.«
Emilys Blick glitt zum Fenster, wo die morgendliche Spätsommersonne den Garten und die Ahornbäume vor den Fenstern in ein warmes oranges Licht tauchte und Amseln und Meisen mit meckerndem Zwitschern von einem Ast zum anderen sprangen. Drake, Emilys Yorkshire Terrier, saß unter dem Tisch zu ihren Füßen, freute sich einerseits, dass Emily wieder da war, schien aber irgendwie auch zu spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Er schnupperte an ihrer Hand und leckte an ihrem Finger.
»Emily, bitte! Mach doch einfach, was wir dir sagen!« Von der Coolness ihres Vaters, die er sonst an den Tag legte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Kein Wunder. Schließlich ging es jetzt nicht nur um ein paar Millionen, sondern um seine einzige Tochter.
»Emily, mach doch einfach, worum wir dich bitten«, sagte er noch einmal.
Musste sie das? Vermutlich. Aber die Diskussion ging nun schon seit Stunden, und es gab nichts Neues mehr zu sagen.
Seit dem Frühstück an diesem Sonntag redete ihre Mutter von nichts anderem als davon, in welcher Gefahr Emily schwebte. Und wie man ihr entkommen konnte.
Sie hatte alles vorgeschlagen – von einer gemeinsamen Weltreise bis zur Verschiebung ihres Studiums. Und natürlich die vernünftigste Lösung: dass Emily sofort wieder zurück nach Hause zog. Hätte nur noch gefehlt, dass sie ihre Tochter in ein Kloster in der Mitte von Nirgendwo abschieben wollte.
Und ja, sie konnte ihre Mum natürlich verstehen. Sie hatte unglaubliche Angst um ihre Tochter, nach all dem, was passiert war. Emily selbst allerdings befand sich immer noch in diesem merkwürdigen Zustand, über den sie einfach nicht Herr wurde. Irgendwie war ihr klar, dass es so oder so kein Entkommen gab, auch wenn sie das seltsame und makabre Spiel, das da mit ihr gespielt wurde, noch nicht vollkommen begriffen hatte. Es kam ihr vor, als liefe sie über eine Brücke, auf beiden Seiten der Brücke waren irgendwelche Feinde, und die einzige Möglichkeit, denen zu entkommen, war von der Brücke zu springen – tausend Meter in die Tiefe.
Sie dachte an gestern Nachmittag zurück, als Carter und Bloom nach Canary Wharf gekommen waren und gemeinsam mit vier Einsatzbeamten und Leuten von der Spurensuche den Tatort in Jacks Wohnung untersucht hatten. Zunächst hatte Carter sie gefragt, ob sie irgendetwas auf der seltsamen Karte, die man ihr als Anhang geschickt hatte, entdeckt hatte, was ihnen weiterhelfen würde, doch Emily konnte nur an den toten Mann auf dem Stuhl denken. Emilys Mutter war natürlich auch sofort vor Ort gewesen. Sie hatte einen Schock erlitten, vielleicht noch mehr als Emily selbst. Ständig hatte sie wiederholt, dass Emily einfach so die Bibliothek verlassen hatte, ohne sich bei ihr zu melden, wo sie sie doch um vier Uhr nachmittags abholen wollte. Als ob das noch schlimmer wäre als der Tote auf dem Stuhl.
Erst Emilys Vater, der eine Stunde später aus der City gekommen war, schien die gesamte Tragweite begriffen zu haben, die der Tote in der Wohnung für Emily darstellte. Es war das erste Mal, dass Emily gesehen hatte, wie die Hände ihres immer so selbstsicheren Vaters zitterten, dort vor der Tür zum Penthouse des Toten, wo es nach Angst, Rauch und verbrannter Elektronik roch. Ihr Vater hatte sich mit Carter über den seltsamen Computer unterhalten, der in Carters Wohnung stand, vielleicht um sich abzulenken, vielleicht auch, weil er ahnte, dass der Computer nicht nur den Tod von Barnville herbeigeführt hatte. Sie hatte ihrem Vater in die Augen geblickt und da noch etwas gesehen, etwas, das sie nicht einordnen konnte.
Carter hatte sich erst geweigert, über den Tod von Barnville zu sprechen, hatte Ausflüchte gemacht und etwas von »Weitere Ermittlungen« gemurmelt und »Wir müssen die Obduktion abwarten«. Emily hatte sehen können, dass er log. Er wusste genau, was passiert war, davon war sie überzeugt. Und dann war es seltsamerweise ihr Vater gewesen, der unbedingt wissen wollte, auf welche Art Jack Barnville zu Tode gekommen war.
»Also gut, ich sag’s Ihnen«, hatte Carter schließlich nachgegeben und sich sogleich einen strafenden Blick von Detective Bloom und auch von Emilys Mum eingefangen. Emily hörte doch mit. Aber Emily wollte auch wissen, was passiert war, sie hatte genug von ihrem goldenen Käfig. Genug davon, dass immer andere entschieden, was man ihr zumuten konnte und was nicht. Bisher hatte das sowieso nichts gebracht.
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