Spiel des Lebens 1
nein, die Gewissheit, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte.
Dieser Mann, das war ihr aus irgendeinem Grund plötzlich klar, entstammte ihrer Vergangenheit, einer Vergangenheit, die sie entweder verdrängt hatte oder die so weit weg war, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte.
Sie hatte von dem Toten auf das Van-Gogh-Bild geblickt, das in einem goldenen Rahmen mit schwarzen Mustern steckte. Und sie hatte gewusst, dass es eben dieser Rahmen war, der die Teile erst zu einem Ganzen machte. Der das Bild von einem Déjà-vu in ein konkretes Relikt aus ihrer Vergangenheit verwandelte, das aus dem Nebel der Zeiten aufgetaucht war, wie ein Knochen, der vor langer Zeit einmal angebrochen war und jetzt in der Gegenwart noch einmal brach und mit grausamer Härte zeigte, dass die Vergangenheit damals real war – und dass sie wieder real werden würde.
Sie war erstaunt über sich selbst, wie wenig sie sich plötzlich vor diesem Toten ekelte. Und merkwürdigerweise stieg in ihr noch etwas auf. Es war nicht die Furcht, die sie im Klammergriff hielt und die Angst vor der nächsten SMS , die jederzeit auf ihrem Handy auftauchen konnte, wie ein Scharfschütze, der sein Opfer schon minutenlang anvisiert hat und irgendwann ohne Vorwarnung schießen würde. Nein, das, was in ihr aufstieg, war Wut.
Da war früher etwas gewesen, und nur stückweise kam die Wahrheit ans Licht.
Warum kannte sie diesen Mann?
Warum kannte sie dieses Bild?
Was hatte man ihr alles verheimlicht?
Und warum?
Sie nahm ihr Handy, rief Detective Carter an, und als sie mit ihm sprach, war ihre Stimme von einer Klarheit, die sie selbst überraschte. Sie hoffte, dass diese Klarheit anhalten und nicht bei der nächsten SMS oder dem nächsten Anruf ihres unheimlichen Verfolgers wieder in Panik umschlagen würde.
Doch nun, wo sich die rötliche Sonne in den Fluten der Themse spiegelte und der Geruch von Elektrizität und Angst noch in dem großen Loft lag, während der Generator blitzte und über die Monitore am Schreibtisch Kursschwankungen und Charts rasten wie Gespenster einer digitalen Welt, stand Emily vor der Leiche und vor dem Bild, das Handy in der Hand und blickte abwechselnd auf das rot gefärbte Panorama vor dem Fenster, auf die Leiche auf dem Stuhl, auf das Bild an der Wand und schließlich tief in sich selbst. Sie wusste, da war etwas.
Doch noch immer fand sie nichts.
18
Er nahm das Fernglas wieder an die Augen und sah sie im flammenden Licht der Sonne am Fenster stehen. Das Handy war an ihrem Ohr, ihr Mund formte Worte.
Wie sie da stand zwischen den Wolken erschien sie ihm mehr und mehr wie ein Engel, der sich aus dem Gold schimmernden Lauf der Themse und den vom Sturm getriebenen Wolken erhob, einem Wesen gleich, das nicht auf diese Welt gehörte.
Sie schien sich jetzt zu erinnern, schien allmählich zu ahnen, dass sie hier etwas sah, das tief in ihre Vergangenheit gehörte, das unter einer so dicken Decke verborgen war, dass es wahrscheinlich unerkannt geblieben wäre bis zu ihrem Tod. Die Neugier und das Wiedererkennen hatten ihren Blick verändert, das sah er selbst aus dieser Entfernung, nein, das spürte er. In diesem Moment schienen das Erstaunen und die Neugier größer zu sein als die Angst. Sein Plan ging in Erfüllung. Denn je mehr Emily ihre Vergangenheit erforschen wollte, desto mächtiger würde das Geheimnis werden, das sie beide teilten. Und desto weniger würde Emily bereit sein, dieses Geheimnis mit anderen zu teilen. Eltern, Kommilitonen, Polizei. Er würde sie von allen fernhalten. Und sie würde ihm dabei helfen. Und am Ende würde sie nur noch ihm gehören.
Und die Angst, er lächelte, die Angst würde früh genug kehren. Bisher war sie nur einmal in Gefahr gewesen – und er hatte sie gerettet. Das würde sich ändern.
Sie stand noch immer am Fenster.
Sie hatte das Telefongespräch beendet und ließ das Handy sinken.
In ihrem Blick war die Erschöpfung sowie der Wunsch, all das hier zu verstehen, in einer Weise vereint, der ihr den Anblick verletzlicher Schönheit verlieh. Sie stand dort tatsächlich wie ein Engel zwischen Himmel und Erde, eingetaucht in das goldene Licht der Sonne, die sich in Wasser und Wolken spiegelte, wie ein Wesen, das nicht auf diese Erde gehörte.
Und am Ende würde er dafür sorgen, dass genau das geschehen würde.
Dass sie nicht mehr Teil der Erde war.
Am Ende würde er sie töten.
Am ersten und am letzten Tag.
19
Tag 4: 4. September 2011
D u gehst nicht wieder
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