Spiel des Lebens 1
Null-Längengrad.
»Das Jahrtausend beginnt hier«, hatte er gesagt .
Was würde für Emily an diesem Ort beginnen? Der Beginn des Schreckens oder das Ende ihres alten Lebens? Oder wäre dies der Ort, wo es enden würde, so, wie das Jahrtausend hier einmal angefangen hatte? Würde Emily in den Abgrund des Vergessens und des Wahnsinns gerissen werden, in einen Nullpunkt der Zeit, der nicht nur über den Anfang, sondern auch über das Ende bestimmte? Ihr Ende?
Die DLR ließ eine um die andere Station hinter sich, während sich die Wolkenkratzer immer höher auftürmten, wie Altäre, errichtet für die Götter des Handels und des Geldes, und sich am Horizont dunkle Wolken sammelten, so als würde sich ein Gewitter ankündigen. »Geld ist wie ein Gewitter«, pflegte ihr Vater zu sagen. »Es baut sich langsam auf und verschwindet schnell.« Mit der Angst war es andersrum. Sie kam sehr schnell und verschwand nur sehr langsam.
Ein Gewitter, dachte sie.
Kein Vergleich für ihre Situation. Ein Gewitter reinigt, macht der Spannung ein Ende. Bei Emily war das Gegenteil der Fall.
Ihr Handy summte und vibrierte wieder, und sie zuckte so zusammen, dass eine ältere Dame neben ihr sie verwundert anschaute. Emily drehte sich weg. Wieder eine SMS . Im Anhang eine Karte. Canary Wharf. India Quay Residence.
DU BIST IN DER DLR. GUT. FOLGE DEM WEG DER KARTE. VOR DER INDIA QUAY RESIDENCE STEHT NEBEN DEM ZWEITEN EINGANG EIN BLUMENKASTEN. DORT FINDEST DU EINE SCHLÜSSELKARTE. SIE PASST ZUM DRITTEN LOFT IM ZEHNTEN STOCK. NAME: BARNVILLE.
Barnville, dachte sie, so als würde der Name sie an irgendetwas erinnern, doch wenn es eine Erinnerung gab, dann war sie so weit entfernt wie ein winziges Atom am Ende des Universums.
Sie wurde beschützt, sie wurde verfolgt, sie wurde bedroht. Und sie fuhr auch noch dort hin, wo ihre Verfolger sie haben wollten.
Emily schaute zur Seite und sah ihr Gesicht in der Scheibe der Bahn, das sich in der Spiegelung mit der Sonne zu einem surrealen Gesamtkunstwerk verband, während die Bahn sich unerbittlich der Station, an der sie gleich aussteigen würde, entgegenschob.
Und erst in diesem Moment, als sie fast ihr Ziel erreicht hatte, konnte sie vor sich selbst zugeben, dass sie noch aus einem anderen Grund unbedingt in diese Wohnung in Greenwich musste.
Es war das Bild mit der Sternennacht.
Ihr kam es so vor, als hätte sie vor langer Zeit genau dieses Bild gesehen. Es war nicht das Original von van Gogh, aber es war das Original von Emily, das Bild, das ihr den Weg zu ihrer diffusen Vergangenheit öffnen könnte.
Es war das Bild, das sie anzog, während sie, wie ferngesteuert, aus der Dockland Light Railway ausstieg und die Canary Wharf Station verließ.
* * *
Sie hatte die Schlüsselkarte gefunden. Und die Wohnung.
Und sie hatte den Toten gesehen. Noch immer gefesselt auf dem Stuhl, an Kabeln angeschlossen, die weit hinten in dem großen Wohnzimmer zu einem riesigen Tisch mit eingeschalteten Monitoren führten und auf der anderen Seite zu einem abgetrennten, kleineren Raum, in dem Generatoren und Lüftungsaggregate summten. Sie verstand nicht recht, was hier geschehen war, sie wollte es auch gar nicht wissen.
Sie wollte eigentlich gar nichts mehr wissen, einfach die Augen schließen oder vielmehr öffnen und aus diesem Albtraum aufwachen.
Was nicht passieren würde.
Denn das hier war die Realität.
Sie hatte die Schwelle übertreten, sie hatte die Warnung mind the gap überhört, sie hatte das Grauen schon wahrgenommen, bevor sie es gesehen hatte.
Und so fühlte sie auch keine wirkliche Überraschung mehr, als sie auf dem Schoß des Toten wieder ein Schreiben entdeckte, diesmal ein Blatt Papier mit schwarzer Schrift:
PASS AUF, DASS DEIN ERSTER TAG NICHT AUCH DEIN LETZTER TAG WIRD .
Der erste Tag, dachte sie. Was sollte das sein? Und wie konnte ein erster Tag ein letzter Tag werden? Und wo? Jetzt? Oder in der Zukunft?
Eine Weile verharrte sie bei diesem Gedanken. Sie hätte eigentlich Angst haben müssen vor dieser Drohung, doch in dem Moment, in dem sie dort stand, war etwas anderes in ihr Bewusstsein getreten, etwas, das so stark war, dass es selbst die Drohungen, die Anrufe und die schrecklichen Morde überdeckte.
Denn als sie in die anklagenden Augen des Toten geblickt hatte und auf den aufgerissenen Mund, der von einem rotgrauen Dreitagebart umrahmt war, da hatte sie gar nicht einmal so sehr der Schrecken des Anblicks einer Leiche in ihren Bann gezogen, sondern die Möglichkeit,
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