Spiel mir das Lied vom Wind
und steuerte Mauel an. Da war sie noch guten Mutes. Nachdem sie überall nur in fragende, ratlose Gesichter blickte, hatte sie langsam das Gefühl auf einer falschen Fährte zu sein. Auch Malsbenden, die vorletzte Station, war eine Enttäuschung.
Melinda parkte und spazierte mit Bruno ans Ufer der Urft. Er sammelte kleine Steine und warf sie in den Fluss und freute sich, wenn das Wasser hochspritzte. Melinda behielt ihn im Auge, rieb ihre kalten Oberarme und dachte nach. Dann fasste sie einen Entschluss. Wenn der letzte Ort auf ihrer Liste Fehlanzeige war, würde sie nach Hause fahren, auf morgen warten und die Kommissarin in ihrem Büro in Euskirchen aufsuchen. Das hätte sie besser sofort getan. Aber Warten war nicht ihre Stärke. Sie leistete sich lieber zehn Kilo Fehlversuche als ein Gramm Geduld.
Aus den Augenwinkeln sah sie Bruno bis zu den Knien im Wasser stehen. Selbstverständlich mit Schuhen. Er bückte sich und hielt beide Händchen unter Wasser. Melinda schnappte sich den tropfenden Kleinen und setzte ihn wieder in seinen Kindersitz. Sie schnallte ihn an und erklärte ihm die Lage der Dinge. Er quittierte den gewaltsamen Abbruch seiner Wasserspiele mit heftigem Gebrüll. Melinda gab sich keine Mühe, ihn zu beruhigen. Irgendwann, dachte sie, würde sie sich an diesen Geräuschpegel gewöhnen. Oder taub sein.
Auch der letzte Name, Wolfgarten, klang nicht nach Erfolg, sondern eher nach verwunschenem Refugium. Eine gerade, schattige Straße mitten durch den Wald lag vor ihr. Am Straßenschild
Wolfgarten
lenkte sie den Wagen in einen weiteren kleinen Ort ab. Das Erste, was sie erblickte, war ein Lokal. Die Kermeterschänke. Sie parkte und machte den Motor aus. Ein Blick in den Rückspiegel: Bruno hatte aufgegeben und war wieder eingeschlafen. Melinda zog den Schlüssel und ließ die Tür offen stehen. Ein letztes Mal wollte sie heute noch nach Herrmann fragen, nur der Vollständigkeit halber. In einer halben Minute wäre sie zurück. Von der Gaststätte aus könnte sie ihr Auto sehen, dachte sie.
Melinda betrat einen gutbürgerlich eingerichteten, hellen Raum mit vielen Fenstern und einer Deckenlampe aus Geweihen. Gut gelaunte Wanderer saßen an den Tischen. Die Bedienung, ein junges Mädchen, kassierte an einem Tisch. Als sie an Melinda vorüberkam, sprach sie sie an. Sie schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. Melinda fragte nach dem Chef. Er wurde aus der Küche gerufen.
»Lassen Sie mich mal sehen«, meinte er, als er sich die Hände an einem Handtuch abwischte und dabei das Foto betrachtete. »Ja, klar, der Bus ist erst gestern Abend hier durchgefahren.«
»Was?«, Melinda blieb der Mund offen stehen. Die Kreolen vibrierten. Die Sonnenbrille im Haar verrutschte. Sie hatte nicht mehr mit einem Treffer gerechnet. Sie hätte beinahe nicht richtig hingehört.
»Den Mann selbst habe ich nicht gesehen. Aber den Bus sehe ich mindestens einmal am Tag.«
»Kennen Sie etwa auch die Polizistin Senger?«, fragte Melinda und vergaß, ihr Gewicht von einem Bein aufs andere zu verlagern.
Der Chef nickte.
»Wo wohnt sie?«
»Drüben in dem alten Forsthaus.«
»Am Ende einer Stromleitung?«, vervollständigte Melinda die Ortsangabe ungläubig.
»Früher war da mal eine, ja. Der Strom liegt jetzt unter der Erde, aber ...«
»Wie komme ich dahin?«, unterbrach Melinda.
»Ganz einfach.« Er zeigte aus dem Fenster. »Sie fahren da oben rechts in den Ort rein, am Briefkasten wieder rechts und bei nächster Gelegenheit links auf einen Feldweg, dann sehen Sie es.«
»Danke«, hauchte Melinda. Sie hätte ihn umarmen können.
»Sie wissen ja gar nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben!«
»Keine Ursache.«
Mit wippendem Rock ging sie zurück zum Wagen. Auf einmal sah die Welt ganz anders aus. Als sie auf den Rücksitz blickte, spielte Bruno glücklich und zufrieden mit seinem Spielzeugauto. Melinda küsste ihn auf den Kopf und sagte: »Wir haben ihn, mein Kleiner.«
Bruno sah nicht einmal hoch. Er sagte: »Polilei.«
»Ja, die Polizei ist auch da.«
Als sie den Motor anwarf, leuchtete ihr vom Armaturenbrett die Uhrzeit entgegen. 14.12 Uhr. Die letzten Gäste verließen das Lokal. Die Bedienung schloss die Türe hinter ihnen ab. Der Wirt stand am Fenster. Melinda setzte die Sonnenbrille auf die Nase und winkte ihm zu.
»Und er lebt«, triumphierte sie und drehte den Zündschlüssel herum. »Das wird ihm leid tun!«
4. Kapitel
Engel«, flüsterte er in Sonjas Ohr. Er lag hinter ihr. Seine Hand unter der
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