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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Bettdecke strich über ihre Hüfte. Kalt stieß sein silberner Glücksbringer, den er niemals ablegte, eine Art keltisches Kreuz, gegen ihre Schultern. »Ich werde dich verlassen.«
    Sie hasste es, wenn er so redete. Jedes Mal ein Stich in die Magengrube, jedes Mal durchfuhr sie die Angst, es sei ein Abschied für immer.
    Vogelgezwitscher drang durch das gekippte Fenster. Es zeigte nach Norden und ließ das Zimmer im Schatten liegen. Vom Bett aus konnte sie nur den Himmel sehen. Wenn sie sich aufsetzte, Baumspitzen. Wenn sie aufstand, Felder, verstreute Häuser, den Waldrand. Das Himmelsblau war heute mit einer feinen, weißen Dunstschicht überzogen.
    Sonja blinzelte in Richtung Radiowecker. Es war 14.03 Uhr und der 10. Juni. Eigentlich ein Arbeitstag, ein ganz normaler Mittwoch. Aber sie hatte sich heute Morgen, als Harry noch tief und fest schlief, per Handy im Büro krank gemeldet, ohne krank zu sein. Ihr Chef, HK Roggenmeier, hatte es kommentarlos zur Kenntnis genommen. Er hatte ihr keine gute Besserung gewünscht. Er hatte nur nach dem Mann im Müll gefragt.
    »Ich habe seine Akte mit nach Hause genommen. Heute Abend geht es mir bestimmt besser, dann kümmere ich mich weiter um ihn«, vertröstete sie Roggenmeier am Telefon.
    »Da bin ich mal gespannt«, war die lapidare Antwort.
    »Blödmann«, sagte Sonja, nachdem sie die rote Taste auf ihrem Handy gedrückt hatte.
    Morgen war Fronleichnam. Der Freitag war ein Brückentag, den Sonja sich mühsam erkämpft hatte. Ein langes Wochenende stand ihr und Harry ins Haus. Sie hatte nicht vor, es sich mit dem Mann im Müll zu verderben. Harry hatte gemeinsame Pläne gemacht. Für sie und sich.
    »Was ist mit Frühstück?«, fragte sie und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
    »Keine Zeit. Ich muss um zwei in Schleiden sein. Ich hab da einen Kunden. Ich glaube, er hat angebissen. Steckt ‘ne Menge Kohle für mich drin, verstehst du?« Er erhob sich ruckartig.
    Sonja drehte sich auf den Rücken, blickte zur Zimmerdecke und seufzte. Sie hörte, wie er hin und her ging. Wie er duschte, sich rasierte und wie er sich anzog. Heute pfiff er
Leaving on a jetplane
von Peter, Paul and Mary dazu, ein klassisches Abschiedslied. Ein Reißverschluss wurde hochgezogen. Ratsch. Die Matratze gab nach. Harry saß auf der Bettkante und zog die Schuhe an. Eigentlich Stiefel, wadenhohe, spitz zulaufende Stiefel aus Krokodilleder. Ein Imitat, hoffte Sonja. Regelrechte Cowboystiefel. Und das im Sommer. Obendrein schien er nur dieses eine Paar zu besitzen. Wenn sie sich besser kannten, würde sie ihn zu ein paar vernünftigen Schuhen überreden.
    Ein letzter, flüchtiger Kuss auf die Nase, und er hastete die Stiege hinunter. Die Haustür fiel hinter ihm zu. Es folgten die bekannten Geräusche. Die Autotür, der Motor, der halbdefekte Auspuff, die Reifen auf dem Feldweg, wenn er wendete. Sobald Harry dem Forsthaus den Rücken gekehrt hatte, tippte er auf die Hupe. Früher hätte eine Ruhestörung wie diese sie rasend gemacht. Früher, das war lange her. Sie sehnte das Geräusch herbei, als sei es ein Versprechen: Ich komme wieder.
    Sonja öffnete die Augen. Der Wecker zeigte 14.15 Uhr. Harry stand auf Kriegsfuß mit Terminen. Sie hatte sich daran gewöhnt und wusste, wenn sie lange genug gewartet hatte, kam er. Keine Spur von schlechtem Gewissen. Immer kam er mit einer Überraschung, einer guten Story oder tausend Liebesschwüren zurück ins Forsthaus. Sie konnte ihm einfach nicht böse sein. Er hatte kein Gefühl für Zeit.
    Hoffentlich wartete sein Kunde in Schleiden auf ihn. Harry schien das Geld dringend zu brauchen. Wer braucht das nicht, sagte sie sich, stand auf und stellte sich ans Fenster. West stromerte draußen herum. Er schien sich ein zweites Zuhause gesucht zu haben. Es konnte nicht weit sein, ins Haus hinein kam er nur noch selten. Und wenn er kam, machte er einen großen Bogen um Sonja und würdigte sie keines Blickes. Ein Bild der Hochnäsigkeit. West konnte die Nase rümpfen wie eine englische Lady. Er war nicht mehr die Nummer eins im Forsthaus. In seinen Augen reine Majestätsbeleidigung. Es schien, als käme er nur noch in die Nähe, um Davis’ Grab einen Besuch abzustatten.
    Davis hatte vor ein paar Tagen eines Morgens tot neben dem Ohrensessel gelegen. Ohne krank gewesen zu sein. Vielleicht hatte er irgendwo Gift gefressen oder sein altes Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Ein Tier wurde nicht obduziert. Jedenfalls nicht von einem

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