Spiel mir das Lied vom Wind
Rechtsmediziner. Er hat nicht lange gelitten, redete Sonja sich ein. Harry schaufelte ihm voller Anteilnahme ein Grab und tröstete sie. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, wie leicht sie seinen Tod verkraftet hatte. Sie wusste nicht einmal mehr den exakten Todestag.
West tauchte ins hohe Gras ab. Er hinterließ eine schmale Schneise. Seine Schwanzspitze schien wie ein Periskop die Gegend nach Fressbarem abzusuchen.
Sonja reckte und streckte sich und gähnte ausgiebig. Wann Harry heute zurückkehren würde, stand wie üblich in den Sternen. Die Frage war für Sonja auch weniger wann, sondern ob. Denn sobald sie allein war, geriet sie in ein Netz aus Ängsten und Zweifeln, das in seiner Anwesenheit völlig eingezogen war.
Sie war in einem biblischen Alter, wie sie fand, das sich nicht leugnen ließ. Sie sah dafür noch ganz gut aus, es hätte schlimmer sein können. Aber genau diese einschränkenden Worte waren der eigentliche Punkt: »für ihr Alter«. Und »noch«. Und »ganz gut«. Einschränkungen, so weit das Auge reichte.
Harry, zehn Jahre jünger, trug seine Jugendlichkeit mit provozierender Selbstverständlichkeit und Lässigkeit zur Schau. Seine Haare konnten ungekämmt und er konnte unrasiert sein, seine Kleidung konnte sitzen, wie sie wollte, er konnte sich bewegen, wie er wollte, er sah zu jeder Tageszeit und von allen Seiten gleich unverschämt gut aus. Seine Stiefel waren ein Thema für sich.
Tausendmal hatte er ihr versichert, für ihn käme nur eine Frau infrage, die älter sei als er, wegen ihrer Reife, Gelassenheit und Lebenserfahrung. Warum sonst habe er sich in seiner Anzeige wohl zehn Jahre älter gemacht? Wie viele Zuschriften er bekommen habe, hatte Sonja eines Tages wissen wollen. Millionen, hatte er lachend geantwortet, und auf ihren entsetzten Blick sofort hinzugefügt, aber ich habe nur dir geantwortet. Ich wusste sofort, du oder keine.
Ihr hatte er auch auf Anhieb gefallen, als sie ihn im Sülzburger Hof am Spielautomaten hatte stehen sehen. Seitdem war ihr Leben aus den Fugen geraten. Kein Stein stand mehr auf dem anderen.
Beine hoch und Ruhe im Forsthaus?
Wer hatte diese Parole ausgegeben? Trostlos langweilig musste jenes alte Leben gewesen sein, das ihr vorkam, als läge es Jahrhunderte zurück. Harry zuliebe hatte sie das Gefühl, sich um 180 Grad ändern zu müssen. Für ihn war sie offen und locker, dynamisch und voller Power geworden, ganz so wie sie glaubte, dass er sie gerne sehen würde.
Ihre ganze Gedankenwelt kreiste um ihn. Die Identität eines misshandelten, toten Mannes im Müll herauszufinden, war bestenfalls sekundär.
Es war mehr als fünf Wochen her, dass Roggenmeier ihr den Fall übertragen hatte. Just an dem denkwürdigen Tag, an dem Harry in ihr Leben getreten war. In den Stunden vor dem schicksalhaften Aufeinandertreffen hatte der Fall begonnen sie zu interessieren. Nach dem Jahrhundertereignis war das aufkeimende Interesse am Mann im Müll erstickt. In der Euphorie, nicht im Müll. Und nur eine halbe Stelle im Kriminalkommissariat inne zu haben, erwies sich als ihre Rettung und die beste aller Ausreden für fehlende Ermittlungserfolge.
Und was, falls Harry eines Tages doch nicht wiederkam …
Sonja schüttelte den Kopf, um die nagenden Zweifel zu vertreiben. Lieber wollte sie in der Erinnerung an den gestrigen Abend schwelgen, als er von seinen Geschäften zurückkehrte und sein »Engel!« durchs Forsthaus schallte. Später, nach dem Essen, das er wie stets mit viel Aufwand und Liebe für sie gekocht hatte, wobei er die Küche regelmäßig in eine Baustelle verwandelte, stellte er draußen neben der Ofenbank zwei Windlichter auf, griff zur Gitarre und zupfte die alten Lieder. Mit weicher Stimme sang er dazu im Sonnenuntergang. Er wusste, wie er unvergessliche Augenblicke schaffen und zelebrieren konnte.
Sonja stieg hinunter in die Küche. Ein Geruch von Essensresten lag über den gestapelten, verschmierten Töpfen und Tellern.
Sie fror. Es kam ihr kalt und feucht vor. Drinnen wie draußen. Schwere Wolken hingen über dem Land. Ein Sommer, der keiner werden wollte. Harry hatte seine schwarze Lederjacke über einem der Essstühle hängen lassen. Sie legte sie sich um die Schultern und zog sie vor der Brust zusammen. Sie war zu weit und reichte bis auf die Hälfte der Oberschenkel.
Sie holte Holz von draußen und machte zuerst ein Feuer im Kachelofen. Sie schuf Platz im Spülbecken, setzte Wasser auf und löffelte Pulver in einen
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