Spiel mir das Lied vom Wind
Kaffeebecher. Mit Blick auf den Feldweg setzte sie sich an den Esstisch und schob die drei Kaffeebecher beiseite, die nebeneinander und mit dem Boden nach oben aufgereiht waren.
Sonja seufzte und nahm sich die Akte
Mann im Müll
vor. Lustlos blätterte sie durch die mageren Ermittlungsergebnisse. Bis zu Harrys Rückkehr könnte sie versuchen, sich wenigstens die wenigen Fakten noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Am 5. Mai, dem Tag
danach
, war sie wie geplant nach Gemünd gefahren. Sie hatte nicht die Putzfrau Anna Resch angetroffen, sondern nur den Inhaber. Es stellte sich heraus, dass die Spielhalle in der Todesnacht wie gewohnt um Mitternacht geschlossen worden war. Der Inhaber war an diesem Tag selbst nicht in seinem Betrieb anwesend. Er hatte tagsüber in seinem Haus renoviert und war abends mit seiner Frau bei einem befreundeten Ehepaar eingeladen. Er wohnte in Schleiden und hatte auf dem Heimweg – so gegen 1 Uhr – nicht nach seiner Spielhalle gesehen. Das tat er nie, er konnte sich angeblich auf sein Personal verlassen. Sein Handy war aber die ganze Zeit über eingeschaltet gewesen. Wenn etwas Besonderes vorgefallen wäre, wäre er benachrichtigt worden.
Zwei bis drei Anläufe hatte Sonja gebraucht, um die beiden Aufsichtspersonen zu erreichen, die in der Nacht zum 1. Mai Dienst in der Spielhalle geschoben hatten. Die beiden beteuerten unabhängig voneinander, dass sich kein Zwischenfall während der Öffnungszeiten ereignet habe. Es sei drinnen sehr wenig los gewesen, draußen gar nichts. Keine Gruppe, schon gar keine randalierende, habe ihr Unwesen getrieben. Die letzten Gäste, zwei junge Männer, seien schon eine halbe Stunde vor Geschäftsschluss in unterschiedliche Richtungen davongegangen. Nach der Schließung waren die beiden Aufsichtspersonen nach Hause gefahren.
Sonja sah aus dem Fenster. Harry glänzte durch Abwesenheit. Sie blätterte weiter.
Nach und nach hatte sie die Bewohner der anliegenden Häuser und die Besitzer der Autos erreicht, die auf dem Hinterhof geparkt waren. Die Personen, die in jener Nacht zu Hause gewesen waren, hatten nichts gesehen und nichts gehört.
Die Putzfrau Anna Resch schließlich bestätigte zwei Wochen später ihre Aussage, die die Kollegen bereits zu Protokoll genommen hatten. Auf Sonjas Frage, woran sie den Tod so zweifelsfrei erkannt habe, hatte Anna Resch entrüstet geantwortet: »Ich habe ihm einen Spiegel unter die Nase und vor den geöffneten Mund gehalten, so wie im Fernsehen.«
Damit war wenigstens eine der Fragen beantwortet, die Sonja nach einer ersten Durchsicht notiert hatte. Die anderen Probleme blieben offen: der geringe Alkoholgehalt im Blut des Toten, die Knutschflecken auf den Schultern, die Frage nach dem Tatort, und vor allem die Identität.
Die örtliche und überörtliche Presse, Kölnische Rundschau und Kölner Stadt-Anzeiger, sogar die kostenfreien Blättchen waren informiert worden. Aber niemand schien sich für den Mann im Müll zu interessieren. Wie konnte das sein?
Der Wasserkessel begann in dem Augenblick zu pfeifen, als ein Auto auf das Forsthaus zugefahren kam. Es war nicht Harry. Es war auch nicht der Audi ihres alten Freundes, Oberstaatsanwalt Bernd Wesseling, der würde sich nicht mehr blicken lassen.
Sonja erhob sich, trat an die Kochplatte, goss Wasser in den Kaffeebecher und sah zu, wie sich das Kaffeepulver unter leichtem Schäumen auflöste. Ein Irgendjemand hatte sich verfahren, würde gleich hinter ihrem Forsthaus wenden und den gleichen Weg zurücknehmen. Ein bekanntes Ritual.
Sonja öffnete die Kühlschranktür und fand Reste von gestern Abend. Harry hatte
involtini siciliani
gemacht. Eine Meisterleistung auf der mobilen Zweier-Kochplatte. Ein Fleischröllchen war übrig geblieben. Sonja schnupperte daran, stellte den Teller zurück und entschied sich für Brot, Butter und Marmelade. Sie schüttelte den kleinen Karton mit Kaffeemilch. Er war leer. Kaffee ohne Milch war ungenießbar. Sie machte sich im Abstellraum unter der Stiege auf die Suche nach Vorräten und dachte an Wesselings Überraschungsbesuch. Er war selbst Schuld an dem Dilemma.
Er hatte Sonja und Harry an einem Nachmittag überfallen, als die beiden noch im Bett lagen, Zeit und Ort zwischen Tag und Traum. Sonja hatte das Auto nicht kommen hören. Sie hörte nur, wie sich jemand mit Gewalt gegen die Haustür fallen ließ, die nach Harrys Reparatur sofort nachgab, wenn sie nicht abgeschlossen war. Er fiel ins Innere und rief: »Hallo!« Das Geheimnis
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