Spiel mir das Lied vom Wind
Aber sie hatte es am eigenen Leib erfahren wollen. Jetzt hatte sie es knüppelhart getroffen. Das hätte er ihr gern erspart. Aber so, wie die Dinge lagen, war dieser beschwerliche Weg nicht zu vermeiden gewesen.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, hörte er sie fragen.
»Natürlich, natürlich«, beteuerte er. »Ich hab verstanden, wie und wann er in deinen Kofferraum kam, aber nicht, warum.«
»Weil ich ihn höchstpersönlich selbst morgen nach Bonn in die Rechtsmedizin fahren möchte.«
»Morgen«, meinte Wesseling und senkte die Stimme und sprach langsam und deutlich mit ihr, wie mit einem kranken Kind. »Dein Chef glaubt, er sei längst dort.«
»Das soll er auch. Bisher hat er nix gemerkt. Wenn du nichts sagst …«
»Und die Bonner Rechtsmedizin? Glaubst du allen Ernstes, es macht keinen Unterschied, ob eine Leiche vier Tage in brütender Hitze in einem Auto unter einer Plane oder in einem Kühlfach gelegen hat?«, fragte Wesseling aufgebracht.
»Mir wird schon etwas einfallen«, behauptete sie. Aber sie sah nicht aus, als würde ihr jemals noch etwas Gescheites einfallen. Sie war völlig durch den Wind.
»Ein Netz von Lügen. Du wirst dich um Kopf und Kragen reden. Warum, Sonja, warum hast du ihn überhaupt hier?«, fragte Wesseling aufgebracht. »Eine stinkende Leiche, was soll das?«
»Das«, antwortete Sonja und holte tief Luft. »Das geht dich nun wirklich nichts an.«
»Ich will es aber wissen.«
»Pechsache.« Sie erhob sich. »Ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt allein ließest. Ich bringe Krux morgen nach Bonn und es geht alles seinen Gang, okay? Wenn du willst, kannst du mich ja anzeigen wegen Behinderung der Justiz und Unterschlagung von Beweismaterial und was weiß ich. Vergiss, dass ich dich einmal in meinem Leben um Hilfe gebeten habe. Es war ein Fehler.«
Wesseling bat mit den Händen um Gelassenheit, erhob sich und schob seinen Stuhl unter den Tisch. Um des Friedens willen begab er sich in anderes Fahrwasser. »Ein anderer Grund, warum ich hergekommen bin, ist dein sogenannter Mann im Müll.«
»Welcher Mann im Müll?«, fragte Sonja und legte die Stirn in Falten.
Wesseling raufte sich innerlich die Haare. Es war schlimmer um sie bestellt, als er befürchtet hatte. »Der Mann, der am 3. Mai tot im Müllcontainer in Gemünd gefunden wurde und darauf wartet, dass du seinen Mörder findest.«
»Ach, so, der. Peter Reiners.«
»Genau der.«
»Dann sag das doch. Auch Tote haben Anspruch auf einen korrekten Namen.«
Wesseling überging ihren Vorwurf. »Es gibt Neuigkeiten.«
»Schön.«
Wesseling öffnete gerade den Mund, um sie preiszugeben, als die Miss-Marple-Melodie im Forsthaus erklang.
Überrascht sah Sonja sich um.
»Dein Handy«, erklärte er.
»Ach ja.« Sie tippte sich an die Stirn, sprang auf und ging der Melodie entgegen. Wesseling hörte sie die Stiege hinaufklettern. Das Telefonat dauerte nicht lange. Sie war wortkarg. Als sie zurück in die Wohnküche kam, sagte sie: »Endlich! Reiners Freundin hat sich gemeldet. Jessica Polzin. Zufrieden?«
Wesseling blickte sie fragend an.
Sonja erstattete Bericht. Sie sprach von Peter Reiners Auto, von der Baumrinde, der Visitenkarte, der örtlichen und überörtlichen Presse, die seine Freundin wohl endlich dazu gebracht habe, sich zu melden. Mit dem Ausruf »Ein Hoch auf die Presse!« endete ihre Rede.
»Je nun«, sagte er und rümpfte die Nase. »Du weißt, was ich von der Presse halte. Ich denke, wir können sehr gut ohne sie arbeiten. Ich setze auf Fachkräfte. Und das nicht zu Unrecht. Es gibt zum Beispiel gerade jetzt entscheidende Neuigkeiten aus der Rechtsmedizin.«
Sonja legte den Kopf schief.
»Papierfasern sind unter einem Fingernagel seiner rechten Hand gefunden worden. Verblasstes Krepp-Papier. Ursprünglich mal rot, jetzt rosa. Es handelt sich um ein Papier, wie es an Maibäumen zu hängen pflegt.«
»Interessant«, sagte Sonja ohne Begeisterung.
»Das gibt dem Fall ganz neue Aspekte, finde ich.«
»Finde ich nicht. Das passt doch wunderbar zu den Sägespänen und der Birkenrinde.«
»Und wo ist die Birke, wenn ich fragen darf?«
»Vielleicht steht sie vor dem Haus seiner Freundin, dieser Jessica Polzin, oder irgendeines anderen hübschen Mädchens oder sie liegt irgendwo im Wald oder ...«
Wesseling zuckte mit den Schultern und musterte Sonja.
Ihr Zusammentreffen hatte unter schlechtem Vorzeichen gestanden. Er war ihr viel zu nahe gekommen. Sie sah schlecht aus. Sie hatte wohl auch abgenommen.
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