Spiel mir das Lied vom Wind
ihm manch falsche Fährte ersparen konnte. Vermutlich hatte Wesseling das in irgendeinem Handbuch gelesen.
»Sonja«, begann er feierlich und faltete die Hände wie zum Gebet, »was glaubst du eigentlich, wer es war, der Herrmann Krux getötet hat?«
»Eine Frau«, erwiderte Sonja wie aus der Pistole geschossen, oder mehrere Frauen, dachte sie, obwohl sie sich als Mörder auch sehr gut seine unangenehmen Freunde vorstellen konnte.
»Das sagst du, weil …«
»Nein«, unterbrach Sonja ihn. »Das sage ich, weil hinter jedem toten Mann eine Frau steht.«
Wesseling zog die Augenbrauen hoch. Auch wenn er diese These für selbstgemacht hielt, dachte Sonja, sie war es nicht. Sie war sogar ziemlich hieb-und stichfest, wenn er die Kriminalfälle dieses und des letzten Jahrhunderts Revue passieren lassen würde, was er nicht tat.
Der Symbolkraft des ungewöhnlichen Galgens, an dem Krux erhängt worden war, schenkten allerdings beide nicht die Priorität, die sie verdient hätte.
Wesseling verteilte die Rollen, zunächst nur auf dem Papier. Hauptkommissar Neugebauer dirigierte er mit zwei Kollegen seiner Wahl nach Köln zu Krux‘ reizenden Freunden und zu Melinda Krux, der Frau hinter Herrmann Krux, Sonja und Brummer zu Jessica Polzin, der Frau hinter Peter Reiners. Er selbst wollte dafür sorgen, dass Krux‘ Bus zur Fahndung ausgeschrieben wurde.
An jedem Abend wollte er in Zukunft einen schriftlichen Bericht von den drei Kommissaren. Egal wann. Per Mail. Sein Privatcomputer sei mit dem Dienstcomputer vernetzt. Er könne jederzeit Zugriff nehmen. Das Vorgehen für den nächsten Tag würde er jeweils von den Ergebnissen abhängig machen.
Auch wenn Sonja nicht mit allem einverstanden war, hielt sie sich bedeckt. Sie war Wesseling dankbar für sein Eingreifen. Sie hätte zu allem Ja und Amen gesagt.
Noch vom Forsthaus aus kündigte er per Handy Jessica Polzin polizeilichen Besuch für den nächsten Tag um 9 Uhr an. Danach gab er Anordnungen an Roggenmeier, Neugebauer und Brummer durch. Brummer sollte morgen um 8.15 Uhr in Wolfgarten erscheinen, um Sonja abzuholen, da ihr Auto soeben verschrottet werden musste.
Anscheinend stieß er mit seinen Kommandos nicht überall auf Gegenliebe. Es entstanden längere Pausen, während derer am anderen Ende der Leitung wohl Protest geäußert wurde. Unvermittelt rief Wesseling ins Telefon: »Ich bin als Oberstaatsanwalt Herr des Verfahrens, wenn ich Sie daran erinnern darf.« Pause. Was immer gesagt wurde, Wesseling hatte eine einfache Antwort darauf. »Es ist, wie es ist«, verkündete er hochdramatisch.
Schweigeminute.
»Und keine Silbe an die Presse!«, fiel ihm noch ein. »Wenn ich nur ein Wort in der Presse lese, drehe ich dem Journalisten und dem Verräter eigenhändig den Hals rum!« Er steckte das Handy in die Anzugtasche, ohne das Gespräch beendet zu haben, und legte seine Hände flach auf den Tisch. Sie waren schmal und manikürt und höchstens dazu geeignet, Papierseiten umzudrehen.
Es war gegen 22 Uhr, als er Sonja verließ. Kein privates Wort war gefallen. Aber er hinterließ Zuversicht.
Zum ersten Mal seit geraumer Zeit konnte sie in dieser Nacht Schlaf finden und fühlte sich nicht wie gerädert, als sie wach wurde. Punkt 8.15 Uhr am nächsten Morgen nahm sie Platz neben einem schweigsamen Kollegen Brummer, der an diesem Samstag sicher lieber frei gehabt oder die Tagesaufgabe wenigstens direkt von zu Hause aus angesteuert hätte, wenn er nicht den Befehl bekommen hätte, einen Umweg über Wolfgarten zu machen.
Außer einem gebrummten »Guten Morgen« und einem gebrummten »Schönes Wetter heute« sagte er kein Wort. So kannte sie ihn vom letzten Mal, als sie mit ihm und Neugebauer zusammengearbeitet hatte. Sonja passte sich der Stille während der Fahrt an, die nicht einmal durch ein Radio unterbrochen wurde. Es herrschte eine Art Lauerstellung zwischen den Kollegen: Was weiß der andere, wovon ich nicht will, dass er es weiß?
Sonja musterte Brummer. Seine Schläfen waren grau. Sein Kinn war etwas fliehend. Er wirkte seriös, routiniert und tatkräftig.
Nach einer halben Stunde hielt er auf der Steinfelder Straße und stellte die Parkscheibe auf, obwohl das Parken samstags frei war. Sicher ist sicher, dachte Sonja und enthielt sich eines Kommentars.
Sie waren eine Viertelstunde zu früh, und das war kein Zufall, sondern hatte Methode. Nur selten mussten sie auf das Gegenüber warten, meist konnten sie überraschen und verwirren, ehe das erste Wort gefallen
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