Spiel mir das Lied vom Wind
nicht weiter äußern. Er erinnerte sie daran, dass er schließlich Oberstaatsanwalt sei, und bat sie nicht zu insistieren, so wie er ihr gnädigerweise keine weiteren bohrenden Fragen mehr über das Warum stellen würde.
Sonja hatte den Verdacht, dass er selbst nicht genau wusste, wie er es anstellen sollte. Ihr ging seine Wichtigtuerei ein wenig auf die Nerven, aber es fiel ihr auch eine Riesenlast von der Seele.
Krux‘ Anwesenheit unter der Plane hatte ihr während der letzten vier Nächte den Schlaf geraubt und sie tagsüber zur Flucht getrieben. Sie war sinnlos in der Gegend herumgeradelt, in ihrer Not sogar mit dem Eifelexpress hin-und hergefahren, hatte in Cafés gesessen und vor sich hingestarrt. Jeden Tag rutschte sie ein wenig tiefer ab, wie in einen Sumpf. Es gab kein Vor und kein Zurück. Nicht ein einziges Mal war sie näher als drei Schritte an die Plane herangetreten. Jeden Morgen hatte sie vom Fenster ihres Schlafzimmers hinuntergeschaut, in der Hoffnung, dass er verschwunden und dass alles nur ein Traum gewesen sei.
Sie wusste selbst nicht, was an dem Tag, als sie Krux kidnappte, in sie gefahren war. Warum um Himmels willen hatte sie ihn mit nach Hause genommen, anstatt ihn in Bonn abzuliefern? Wie ein Zeichen war in dem Augenblick, in dem sie mit Entschlossenheit und entsprechendem Karacho in die Plastikgarage neben dem Forsthaus hineingefahren war, das von Harry errichtete Gebilde aus Planen und Latten in sich zusammengesunken wie ein Soufflé. Ein Zeichen wofür?
Sonjas Kenntnisse in Tiefenpsychologie bestanden aus Fragmenten. Vielleicht hatte sie unbewusst ein Bedürfnis verspürt, Krux ein letztes Mal ganz für sich zu haben? Macht über ihn zu haben und sie auszuüben? Ihm die Ruhe eines ordentlichen Grabes nicht zu gönnen? Vielleicht war es aber nur der Holländer van Kessel gewesen, der ihr vorgemacht hatte, wie leicht das Kidnapping einer Leiche in der Praxis möglich war?
Warum auch immer, sie hatte es getan und sich damit in die größte Falle ihres Lebens manövriert. Wenn Wesseling nicht gekommen wäre … Sie hatte daran gedacht, ihn in die Urfttalsperre zu werfen. Krux, nicht Wesseling. Sie hatte mehr getan, als nur daran zu denken. Sie hatte die Karte studiert, um einen möglichst freien, einsamen Zugang zum Wasser zu finden. Sie hätte ihn mit Steinen beschwert. Niemand wäre auf sie gekommen. Niemand. Die Fotos und die Mail hätte sie kurzerhand für einen Witz erklärt, den sich der kleine Nachbar Niederlande hatte machen wollen. Van Kessel wäre das nur recht gewesen.
Aber dann – in einer noch schwächeren Minute – hatte sie Wesseling angerufen. Ein Hilfeschrei. Ein Strohhalm. Und wenn er heute nicht sofort gekommen wäre, hätte sie es getan. Morgen. Ganz in der Frühe. Bei Sonnenaufgang. Zur Wolfsstunde.
Nach einem halbherzigen Kampf gegen ihn und seine Verhörmethoden versprach sie Wesseling im Laufe des Abends reumütig, alles zu tun, was er verlangte. Sie würde mit den Bonner Kollegen Brummer und Neugebauer, gegen die sie im Übrigen nichts einzuwenden hatte, eng zusammenarbeiten und mit ihnen gemeinsam nach und nach alle möglichen Spuren und Hinweise abklappern. Wie eine ganz normale Kommissarin im Dienst. Als wäre es die reine Routine. Keine Alleingänge mehr. Keine Selbstjustiz.
Unaufgefordert händigte sie Wesseling den Personalausweis des Holländers van Kessel aus und das einzige Foto, das sie von Krux besaß. Ein Starfoto. Krux in der Sonne auf der Ofenbank mit der Gitarre auf dem Schoß. Wesseling legte es kommentarlos wie ein Lesezeichen in seine rote Kladde.
Im Fall Peter Reiners gab es vorerst nur Jessica Polzin, die befragt werden konnte.
Im Fall Krux wurde die Liste in Wesselings Kladde lang und länger: Der Holländer Johan van Kessel, der Krux unter dem Windrad gefunden hatte, Adrian Skyler, der die Anzeige bei der deutschen Polizei aufgegeben hatte, und Willem Roosevelt, der noch nicht in Erscheinung getreten war. In Köln warteten Ehefrau Melinda Krux, deren Personalien dem KK Euskirchen vorlagen, mitsamt dem kleinen Bruno, der noch nicht rechtsmündig war, und schließlich die Ölprinten Steinbrecher und Hansen, deren Autokennzeichen Sonja notiert hatte.
Wesseling war es, der die Fäden festzurrte. Er war in seinem Element, er spielte den Intendanten und stellte den Spielplan auf.
Bevor es aber an die Rollenverteilung ging, stellte er Sonja eine letzte Frage zu Krux. Eine Frage, die jeder gute Kommissar stellen sollte und deren Antwort
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