Spiel mir das Lied vom Wind
der Rechtsmedizin, der eine Stunde später per Hauspost auf seinen Schreibtisch gelangte, Wort für Wort. Gegenstand war die erneute Obduktion des Peter Reiners, der vom Kriminalkommissariat Euskirchen den Namen
Mann im Müll
erhalten hatte, weil er in einem Müllcontainer gefunden und zunächst nicht hatte identifiziert werden können.
Der neue Befund, von dem Gehring im Casino gesprochen hatte, und den Wesseling nun Wort für Wort nachlesen konnte, war eine kleine Sensation. Sie konnte das Motiv für den Mord sein.
Das sollte Sonja wissen, fand Wesseling, auch wenn ihr Anruf gestern Nacht einen ganz anderen Anlass hatte, nämlich einen verzweifelt privaten, wie er der Lage ihrer Stimme entnommen hatte. Es war für ihn keine Frage, dass er nicht mehr lange telefonieren, sondern sich sofort in sein Auto setzen musste. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach 15 Uhr.
Ein Rum mit Tee im Forsthaus? Er packte den Bericht des Rechtsmediziners in seine Aktentasche, zog sein Jackett über und zurrte seinen Schlips gerade. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er nach jenem Getränk nicht mehr mit dem Auto fahren dürfen. Aber bei seinen letzten Besuchen hatte Sonja entweder keinen Tee im Haus, keinen Rum oder beides nicht. Oder keine Zeit für ihn. Mal sehen, wie es heute war. Wesseling verabschiedete sich von seiner Sekretärin, er habe einen Außentermin.
»Moment!«, bat sie ihn und reichte ihm einen geöffneten, braunen Umschlag. »Das ist gerade mit dem Kurier aus Euskirchen gekommen.«
Es waren die angeforderten Unterlagen … und mehr.
Die Ermittlungsergebnisse des Kriminalkommissariats im Fall Peter Reiners, die er auf die Schnelle quer las, und ein zweiter Fall, der in Sonja Sengers Arbeitsbereich lag.
Sie war am 20. August einer Online-Anzeige nachgegangen. Ein Toter war unter einem Windrad gefunden worden. Die Leiche hatte Sonja Senger noch am gleichen Tag ordnungsgemäß in die Rechtsmedizin Bonn überführen lassen. Seltsam, dachte Wesseling, wieso hatte Gehring das nicht erwähnt?
Er warf den Umschlag neben sich auf den Beifahrersitz.
Als er auf das Forsthaus in Wolfgarten zufuhr, sah er dort ein weißes aufgefaltetes Ungetüm liegen, das einem Fallschirm ähnelte, der vom Himmel gefallen und an einem falschen Platz gelandet war. Je nun, sagte sich Wesseling und parkte in gebührendem Abstand.
Er spähte durch die Fenster im Erdgeschoss. Er klopfte vorsichtig gegen die Haustür, der er nach dem letzten Mal nicht mehr über den Weg traute. Er trat zurück und blickte hoch zum Dachfenster. Es war geschlossen. Das Haus kam ihm verlassen vor. Von Sonjas Polo keine Spur. Sie arbeitete, bravo. Dann konnte es so schlimm nicht sein.
Bei näherem Hinsehen bestand der Fallschirm aus einer dicken, weißen Gewebeplane, auf der eine gelbe Schicht aus Blütenpollen lag. In Wesseling kämpfte Neugier gegen Allergie. Nur ganz kurz, sagte er sich und ohne einzuatmen. Er hob die Plane mit beiden Händen hoch, bückte sich, machte zwei Schritte vorwärts und stieß mit dem Schienbein gegen die Stoßstange des Polos. Er musste schwer beladen sein, er wirkte tiefer gelegt. Schnell trat er zurück, ließ die Plane herunterfallen, wandte sich ab. Das Ganze hatte zwei, höchstens drei Sekunden gedauert. Eine Art Überraschungsangriff, der den Pollen galt.
Wesseling entstaubte seinen Anzug, schüttelte Hände und Haare aus, zu spät, da setzte der erste Nieser ein, der so heftig war, dass Wesseling keine Zeit mehr hatte, ein Taschentuch zu finden. Er nieste in die Gegend und zog anschließend die Nase hoch. Auf diese Weise wurde er noch genau vier Mal heimgesucht. Als er dachte, das war‘s, entfuhr ihm ein fünfter Nieser. Er war verseucht von den Zehennägeln bis zu den Haarspitzen.
Er sollte in seinem Auto mit Pollenfilter auf Sonja warten oder nach Hause nach Bonn fahren, die Kleidung wechseln und ausgiebig duschen, um das Zeugs aus den Haaren loszuwerden. Aber was lag in Sonjas Kofferraum? Wieso war sie ohne Auto unterwegs? Sie hatte seines Wissens nach immer noch keinen Dienstwagen. Hatte sie etwa wieder das Fahrrad genommen? Das waren einfach zu viele Fragen, die nicht unbeantwortet bleiben konnten.
Dieses Mal ging er geschickter vor und nahm sich mehr Zeit. Er schob die Plane vor sich her, anstatt sie sich über den Kopf zu ziehen. Er rollte sie auf, über berstende Holzlatten und das Autodach hinweg, trat sie mit Füßen, bis alle Türen frei zugänglich waren. Sie waren abgeschlossen. Der rechte Kotflügel neuerdings
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