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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Oberstaatsanwalt und stand mit beiden Beinen im Leben. Er wusste, Einsamkeit konnte seltsame Blüten treiben. Eine Frau allein in einem Forsthaus, das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Das hatte er ihr mehr als einmal erklärt.
    Aber sie hatte ihn falsch interpretiert. Bewusst oder unbewusst. Anstatt in die Stadt zu ziehen, um unter Menschen zu kommen, fand er sie eines Tages an der Seite dieses gefährlichen, halbnackten Charmebolzens vor. Beim nächsten Mal traf er auf dessen Freunde, eine gefährliche Brut, und alles im Forsthaus, das ein Wespennest geworden war. Seit dieser Begegnung erfüllte ihn wieder diese gewisse Unruhe, wenn er an Sonja dachte. Sie machte es ihm nicht leicht. Wenn sie wenigstens damit aufhörte, ihr Glück in den Armen verantwortungsloser Männer zu suchen. Auf der Suche nach einer Lösung sagte er sich, dass er auch in der dienstlichen Pflicht sei, sicherzustellen, dass seine Personal-Empfehlung für das Kriminalkommissariat Euskirchen keine Fehlentscheidung gewesen war.
    Zwei Stunden bevor der Wecker klingelte, schlief er ein, tief und traumlos.
    Am Vormittag verschanzte sich Wesseling hinter Akten. Seine einzigen Tätigkeiten bestanden darin, alle halbe Stunde erfolglos in Wolfgarten anzurufen und in Euskirchen alle Fälle anzufordern, die HK Sonja Senger derzeitig bearbeitete. Roggenmeiers Frage nach dem Warum kanzelte er mit der Information ab, er sei Oberstaatsanwalt. Seit er befördert worden war, hatte er begonnen, seine hohe Position immer dann in die Waagschale zu werfen, wenn er gerade keine andere Erklärung parat hatte. Das klappte immer. Er erfuhr vom Mann im Müll, der sich derzeit in der Rechtsmedizin aufhielt.
    Beim Mittagessen führte er deshalb ein Gespräch mit Dr. Gehring herbei, indem er im Casino mit seinem Tablett an dessen Tisch balancierte. Sie hatten beide das gleiche Gericht auf dem Teller. Schweinebraten, Rotkohl, Kartoffeln. Mit der Gabel vermengte Wesseling Rotkohl und Kartoffeln zu einem dunkelroten Brei.
    »Wie geht’s, wie steht’s?«, fragte er und Dr. Gehring winkte ab.
    »Ach, hör auf! Immer dasselbe. Es ist zum Heulen. Für Tote ist nie Geld da!«
    »Erzähl!«
    Wesseling hatte eine Schleuse geöffnet, aus Dr. Gehring sprudelte es nur so heraus. Obwohl Wesseling sein Klagelied mehr als einmal gehört hatte, zeigte er sich verständnisvoll. Und so erfuhr er auch dieses Mal nichts Neues.
    Weil die Rechtsmedizin heillos überfordert sei, gebe es viel zu wenige Obduktionen. Mindestens jede zweite Tötung bliebe unentdeckt. Nicht wegen dieser psychopathischen Serienmörder, nein, es gebe Hausärzte, die schlampig arbeiteten, Angehörige, die dem kranken Opa ein Kissen aufs Gesicht drückten oder einen Selbstmord in der Familie aus Scham vertuschten. Eine Treppe hinunterzufallen oder hinuntergestoßen zu werden, das waren nur minimale Unterschiede. Was war mit den Kumpeln, die sich prügelten und den anderen einfach liegen ließen, oder den Pflegern, die unabsichtlich die Dosis des Beruhigungsmittels erhöhten. Das war nicht immer Mord, aber doch Körperverletzung mit Todesfolge. Eigentlich müsste es professionelle Leichenbeschauer geben, doppelt so viele Ermittlungsverfahren, doppelt so viele Polizeibeamte, Rechtsmediziner und Staatsanwälte …
    »Wem sagst du das!«, unterbrach Wesseling Dr. Gehring, der seinen Einwurf nicht zur Kenntnis nahm und weiter schimpfte.
    Kein Wunder sei es, dass viel zu viele Leichen die Kühlfächer blockierten, und die Damen und Herren Kriminalkollegen nicht fertig würden.
    Das war Wesselings Einsatz. Endlich. Ob eine dieser Kriminalkolleginnen vielleicht zufällig eine gewisse HK Sonja Senger sei, fragte er.
    Dr. Gehring stutzte erst, nickte dann und warf ihm einen bedeutsamen Blick zu. »Senger bearbeitet einen einzigen Fall und das seit Mai.«
    »Je nun«, machte Wesseling. Er war kurz davor, Sonja in Schutz zu nehmen.
    Mit vollem Mund fügte Dr. Gehring kaum verständlich hinzu, dass es hochinteressante neue Erkenntnisse in Sengers einzigem Fall um Peter Reiners gebe. Er wolle den Bericht gleich nach dem Essen nach Euskirchen schicken, in der Hoffnung, dass endlich etwas passieren würde.
    »Soll ich für dich ein bisschen Druck machen?«, bot Wesseling an, selbstlos wie er war.
    »Hast du dafür Zeit? Ihr Staatsanwälte seid doch genauso überlastet.«
    »Ich nehme sie mir für dich.«
    Dr. Gehring hörte auf zu kauen, und eine Rotkohlfaser blieb in seinem rechten Mundwinkel hängen.
    Wesseling las den Bericht

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