Spielen: Roman (German Edition)
Schulwesen, das Gesundheitswesen, das Sozialwesen, das Verkehrswesen – und die mächtigen Behörden und Ämter in einer großangelegten zentralen Aktion entstanden, die binnen bemerkenswert kurzer Zeit Konsequenzen für die Lebensweise der Menschen hatte. Ihr Vater, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geboren, stammte von dem Hof, auf dem sie aufgewachsen war, in Sørbøvåg in Ytre Sogn, und hatte keine Ausbildung. Ihr Großvater stammte wie sein Vater und dessen Vater wahrscheinlich auch von einer der vorgelagerten Inseln. Ihre Mutter stammte von einem Bauernhof in Jølster, etwa hundert Kilometer entfernt, und hatte ebenfalls keine Ausbildung. Ihre Familie ließ sich an ihrem Wohnort bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Seine Familie stand dagegen gesellschaftlich eine Stufe höher, da sowohl sein Vater als auch sein Großvater bereits Akademiker gewesen waren. Doch auch sie wohnten noch im selben Ort wie ihre Eltern, in Kristiansand. Seine Mutter, die keine Ausbildung hatte, stammte aus Åsgårdstrand, ihr Vater war Lotse gewesen, ansonsten hatte es in ihrer Familie auch noch Polizisten gegeben. Als sie ihren Mann kennenlernte, zog sie mit ihm in seine Heimatstadt. So sah der Regelfall aus. Die Veränderungen der fünfziger und sechziger Jahre bildeten eine Revolution, jedoch ohne die bei Revolutionen sonst übliche Gewalt und Irrationalität. Die Kinder von Fischern und Kleinbauern, Industriearbeitern und Verkäuferinnen absolvierten nicht nur ein Universitätsstudium und wurden Lehrer und Psychologen, Historiker und Sozialarbeiter, viele von ihnen ließen sich zudem an Orten nieder, die von den Gegenden, aus denen ihre Familien stammten, weit entfernt lagen. Die Tatsache, dass sie dies alles mit der größten Selbstverständlichkeit taten, sagt uns etwas über die Macht des Zeitgeistes. Der Zeitgeist kommt von außen, entfaltet seine Wirkung jedoch nach innen. Vor ihm sind alle gleich, aber für ihn ist niemand gleich. Für die junge Mutter in den sechziger Jahren wäre der Gedanke absurd gewesen, einen Burschen von einem der Nachbarhöfe zu heiraten und den Rest ihres Lebens dort zu verbringen. Sie wollte doch in die Welt hinaus! Sie wollte doch ihr eigenes Leben führen! Gleiches galt für ihre Brüder und Schwestern, und genauso verhielt es sich in Familien im ganzen Land. Aber warum wollten sie das? Woher rührte diese mächtige Überzeugung? Ja, woher kam das Neue ? In ihrer Familie gab es dafür keine Vorbilder; der Einzige, der seine Heimatregion jemals verlassen hatte, war Magnus gewesen, der Bruder ihres Vaters, und er war wegen der Armut daheim nach Amerika ausgewandert, und das Leben, das er dort geführt hatte, war dem Leben, das er in Westnorwegen geführt hatte, lange zum Verwechseln ähnlich gewesen. Für den jungen Vater in den sechziger Jahren sah die Sache ein wenig anders aus, in seiner Familie wurde von ihm erwartet, eine höhere Ausbildung anzustreben, vielleicht jedoch weniger, dass er die Tochter eines Kleinbauern aus Westnorwegen heiratete, um sich in einem Neubaugebiet in der Nähe einer kleinen südnorwegischen Stadt niederzulassen.
Dennoch befanden sie sich an diesem schwülwarmen und grauen Tag im August 1969 nun dort und waren zu Fuß auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause, er zwei schwere Koffer schleppend, vollgestopft mit Sechzigerjahreklamotten, sie einen Sechzigerjahrekinderwagen schiebend, in dem ein Baby in Sechzigerjahrebabykleidung lag, will sagen, weiß und voller Spitze, und zwischen ihnen, hin und her wippend, fröhlich und neugierig, gespannt und erwartungsvoll, ihr ältester Sohn Yngve. Über die Ebene gingen sie, durch den kleinen Streifen Wald bis zu dem offen stehenden Tor des großen Stützpunktgeländes. Rechts lag eine Autowerkstatt, die einem gewissen Vraaldsen gehörte, links standen große, rote Baracken um einen offenen Kiesplatz gruppiert und hinter diesem ein Kiefernwald.
Einen Kilometer weiter östlich lag die Tromøy-Kirche, ein steinerner Bau aus dem Jahre 1150, aber Teile von ihr waren sogar noch älter, so dass sie wahrscheinlich eine der ältesten Kirchen im ganzen Land war. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe, war seit ewigen Zeiten von vorbeifahrenden Schiffen als Landmarke benutzt worden und auf allen Seekarten verzeichnet. Auf Mærdø, einer kleinen Insel in den vorgelagerten Schären, stand ein alter Kapitänshof und erinnerte an die Blütezeit der Region, das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert, als der Handel mit anderen Ländern,
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