Spielen: Roman (German Edition)
weiß nicht einmal, in welchem Haus wir wohnten, obwohl mein Vater es mir einmal gezeigt hat. Alles, was ich über diese Zeit weiß, stammt aus dem, was meine Eltern mir erzählt haben, und den Bildern, die ich gesehen habe. In jenem Winter lag der Schnee mehrere Meter hoch, wie es in Südnorwegen zuweilen vorkommt, und der Weg zum Haus glich einer schmalen Klamm. Da kommt Yngve und schiebt einen Wagen, in dem ich liege, da steht er auf seinen kurzen Skiern und lächelt den Fotografen an. Im Haus steht er, zeigt auf mich und lacht, oder ich stehe alleine und halte mich am Gitterbettchen fest. Ich nannte ihn »Aua«, es war mein erstes Wort. Er war im Übrigen der Einzige, der verstand, was ich sagte, wie man mir später erzählt hat, und meine Worte den Eltern übersetzte. Außerdem weiß ich, dass Yngve an jedem Haus klingelte, um zu fragen, ob dort Kinder lebten, denn diese Anekdote erzählte meine Großmutter später oft. »Wohnt hier ein Kind?«, sagte sie mit Kinderstimme und lachte. Und ich weiß, dass ich selbst die Treppe herunterfiel und eine Art Schock erlitt, ich atmete nicht mehr, lief blau an und bekam Krämpfe, und meine Mutter lief mit mir im Arm zum nächstgelegenen Haus mit Telefon. Sie dachte, es sei Epilepsie, aber das war es nicht, es war nichts. Außerdem weiß ich, dass mein Vater seine Arbeit als Lehrer mochte, dass er ein guter Pädagoge war und in diesen Jahren mit seiner Klasse einen Ausflug in die Berge machte. Es gibt Bilder von dieser Fahrt, auf jedem sieht er jung und gut gelaunt aus und wird von Jugendlichen umringt, die in den für die ersten Jahre der Siebziger typischen Klamotten stecken. Strickpullover, weite Hosen, Gummistiefel. Sie hatten üppige Haare, nicht üppig und hochgesteckt wie in den Sechzigern, sondern üppig und weich und in ihre sanften, jugendlichen Gesichter fallend. Meine Mutter meinte einmal, er sei später vielleicht nie mehr so glücklich gewesen wie damals. Dann gibt es noch Bilder von Großmutter, Yngve und mir – zwei sind vor einem eisbedeckten Gewässer aufgenommen worden, Yngve und ich tragen große Wolljacken, beide von Großmutter gestrickt, meine ist senfgelb und braun – und zwei, die auf der Veranda ihres Hauses in Kristiansand entstanden sind. Auf dem einen hat sie ihre Wange an meine gelegt, es ist Herbst, der Himmel ist blau, die Sonne steht tief, wir schauen auf die Stadt hinaus, ich bin ungefähr zwei oder drei Jahre alt.
Man könnte sich vorstellen, dass diese Fotografien eine Art Gedächtnis verkörpern, eine Art Erinnerungen bilden, nur ohne das »Ich«, von dem die Erinnerungen normalerweise ausgehen, und daraufhin stellt sich natürlich die Frage, was sie bedeuten. Ich habe von den Familien von Freunden und Geliebten unzählige Bilder aus jener Zeit gesehen, die sich ausnahmslos zum Verwechseln ähnlich sehen. Die gleichen Farben, die gleichen Kleider, die gleichen Zimmer, die gleichen Tätigkeiten. Mit diesen Fotos verbinde ich jedoch nichts, sie sind in gewisser Weise sinnlos, ein Aspekt, der noch offensichtlicher wird, wenn ich Aufnahmen von der vorherigen Generation betrachte. Es handelt sich nur um eine Ansammlung von Menschen, die in fremdartige Kleider gehüllt dabei sind, irgendetwas mir gänzlich Unergründliches zu tun. Wir machen Bilder von der Zeit, nicht von den Menschen in ihr, sie lassen sich nicht einfangen. Für die Menschen in meinem engsten Umfeld galt das Gleiche. Wer war die Frau, die vor dem Herd in der Wohnung in der Thereses gate posierte, in einem hellblauen Kleid, ein Knie gegen das andere gelegt und die Beine getrennt, in dieser für die sechziger Jahre so typischen Pose? Die Frau mit den hochgesteckten Haaren? Den blauen Augen und dem sanften Lächeln, das so sanft ist, dass es schon fast kein Lächeln mehr ist? Sie, deren eine Hand um den Griff der glänzenden Kaffeekanne mit dem roten Deckel geschlossen ist? Nun ja, das war natürlich meine Mutter, meine Mama, aber wer war sie? Woran dachte sie? Wie sah ihr Leben aus, das sie bis dahin gelebt hatte, und wie das, das vor ihr lag? Das weiß nur sie allein, und darüber sagt das Bild nichts aus. Eine fremde Frau in einem fremden Zimmer, das ist alles. Und der Mann, der zehn Jahre später auf einem Berg sitzt und Kaffee aus demselben roten Deckel trinkt, weil er vor seinem Aufbruch vergessen hat, Kaffeetassen einzupacken, wer war er? Der Mann mit dem gepflegten schwarzen Bart und den dichten schwarzen Haaren? Der Mann mit den empfindsamen Lippen und den heiteren
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