Spielen: Roman (German Edition)
Augen? Ach ja, genau, das war ja mein Vater, Papa höchstpersönlich. Aber wer er für sich selbst war, in diesem Moment wie in allen anderen Momenten, weiß niemand mehr. Und so verhält es sich mit all diesen Bildern, auch mit den Fotos von mir selbst. Sie sind vollkommen leer, die einzige Bedeutung, die sich aus ihnen ablesen lässt, hat die Zeit hineingelegt. Trotzdem sind diese Aufnahmen ein Teil von mir und meiner intimsten Geschichte, wie die Bilder anderer ein Teil ihrer Geschichte sind. Sinnvoll, sinnlos, sinnvoll, sinnlos, das ist die Welle, die durch unser Leben rollt und seine grundlegende Spannung bildet. Alles, woran ich mich aus den ersten sechs Jahren meines Lebens erinnere, und alles, was es an Bildern und Gegenständen aus jener Zeit gibt, nehme ich an, sie bilden einen wichtigen Teil meiner Identität, füllen die ansonsten leere und erinnerungslose Randzone dieses »Ichs« mit Sinn und Kontinuität. Von all diesen Teilen und Bruchstücken ausgehend habe ich einen Karl Ove, einen Yngve, eine Mutter und einen Vater, ein Haus in Hove und ein Haus in Tybakken, Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits, eine Nachbarschaft und einen Haufen Kinder errichtet.
Dieses slumhüttenähnliche Provisorium nenne ich meine Kindheit.
Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist. Niemals ist der Wahrheitsanspruch entscheidend dafür, ob das Gedächtnis ein Ereignis richtig oder falsch wiedergibt. Entscheidend ist der Eigennutz. Das Gedächtnis ist pragmatisch, hinterhältig und listig, allerdings nicht in feindseliger oder boshafter Weise; es tut im Gegenteil alles, um seinen Wirt zufriedenzustellen. Manches verschiebt es ins leere Nichts des Vergessens, manches verdreht es bis zur Unkenntlichkeit, manches versteht es galant falsch, manches, und dieses manche ist so gut wie nichts, manches bleibt ihm scharf, glasklar und korrekt in Erinnerung. Doch zu entscheiden, was korrekt in Erinnerung bleiben soll, ist dir niemals vergönnt.
Was mich betrifft, so habe ich an meine ersten sechs Lebensjahre praktisch keine Erinnerungen. Mir ist so gut wie nichts im Gedächtnis haften geblieben. Ich habe keine Ahnung, wer auf mich aufpasste, was ich tat, mit wem ich spielte, das alles ist wie weggeblasen, die Jahre 1968 bis 1974 sind ein großes, leeres Nichts in meinem Leben. Das wenige, was mir einfällt, ist nicht der Rede wert: Ich stehe auf einer Holzbrücke in einem fast hochgebirgsartig lichten Wald, unter mir rauscht ein großer Bach, das Wasser ist grün und weiß, ich hüpfe auf und ab, die Brücke schaukelt, und ich lache. Neben mir steht Geir Prestbakmo, der Nachbarjunge, auch er springt lachend auf und ab. Ich sitze auf der Rückbank eines Autos, wir halten an einer Ampel, Vater dreht sich zu mir um und sagt, dass wir in Mjøndalen sind. Wir sind auf dem Weg zu einem Fußballspiel, hat man mir erzählt, aber ich entsinne mich weder der Fahrt dorthin, des Spiels noch der Heimfahrt. Ich gehe den Anstieg vor dem Haus hinauf und schiebe einen großen Plastiklastwagen vor mir her, er ist gelb und grün und schenkt mir ein wirklich fantastisches Gefühl von Reichtum und Wohlstand und Freude.
Das ist alles. Das sind die ersten sechs Jahre meines Lebens.
Aber das sind die kanonisierten Erinnerungen, die bereits im Sieben- oder Achtjährigen etabliert waren, die Magie der Kindheit: das Allererste, woran ich mich erinnere! Es gibt jedoch auch andere Formen von Erinnerungen, die nicht festgelegt sind und sich nicht willentlich vergegenwärtigen lassen, sich aber dennoch von Zeit zu Zeit loslösen, von alleine im Bewusstsein aufsteigen und eine Weile darin auf und ab schaukeln wie eine Art durchsichtiger Quallen, zum Leben erweckt von einem bestimmten Geruch, einem bestimmten Geschmack, einem bestimmten Geräusch … Begleitet werden sie stets von einem unmittelbaren und intensiven Glücksgefühl. Darüber hinaus gibt es noch die Erinnerungen, die mit dem Körper verbunden sind, wenn man etwas tut, was man schon einmal getan hat, die Hand schützend gegen die Sonne erheben, einen Ball schnappen, mit einer Drachenschnur in der Hand, dicht gefolgt von seinen eigenen Kindern, über eine Wiese laufen. Dann sind da noch die Erinnerungen, die mit Gefühlen verknüpft sind: die plötzliche Wut, die plötzlichen Tränen, die plötzliche Angst, und man ist, wo man war, in sich selbst zurückgeschleudert, in rasendem Tempo
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