Spielen: Roman (German Edition)
gefährliches Tier einen angriff, ich hatte auch gehört, Hunde könnten die Angst anderer riechen. Ich weiß nicht mehr, wer mir das erzählt hatte, aber es gehörte zu den Dingen, die kursierten und die alle wussten: Hunde riechen es, wenn du Angst hast. Als Reaktion darauf können sie selbst Angst bekommen oder aggressiv werden und einen angreifen. Hat man keine Angst, tun sie einem nichts.
Endlos grübelte ich darüber nach. Wie war es nur möglich, dass sie Angst riechen konnten? Wie roch Angst? Und war es möglich, so zu tun, als hätte man keine Angst, so dass der Köter dies roch und das wahre Gefühl nicht bemerkte, das sich gleich darunter verbarg?
Kanestrøms, die zwei Häuser über unserem wohnten, hatten ebenfalls einen Hund. Es war ein lammfrommer Golden Retriever namens Alex. Er trottete hinter Herrn Kanestrøm her, wo immer dieser hinging, aber auch, wenn nötig, hinter jedem der vier Kinder. Liebe Augen und irgendwie sanfte, freundlich gesinnte Bewegungen. Doch selbst vor ihm fürchtete ich mich, denn wenn man auf der Straße auftauchte und das Grundstück betreten wollte, um zu klingeln, bellte er. Es war kein zaghaftes, freundliches oder fragendes Bellen, sondern ein kräftiges, tiefes und lautes. Ich blieb dann stehen.
»Hallo, Alex«, sagte ich manchmal, wenn keiner in der Nähe war. »Weißt du, ich habe keine Angst vor dir. Das ist es nicht.«
Wenn jemand da war, musste ich dagegen einfach weitergehen, mich unbeeindruckt geben, mir sozusagen einen Weg durch das Bellen bahnen, und wenn er mit offenem Maul direkt vor mir stand, bückte ich mich und streichelte ein, zwei Mal seine Seite, während mein Herz pochte und alle Muskeln vor Schreck ganz schwach waren.
»Sei still, Alex!«, rief Dag Lothar manchmal, wenn er den schmalen Kiesweg von der Kellertür heraufgelaufen kam oder aus der Haustür trat.
»Karl Ove hat Angst vor deinem Gebell, du dummer Hund.«
»Habe ich nicht«, entgegnete ich daraufhin. Dag Lothar sah mich nur mit einer Art starrem Grinsen an, das mir vermutlich sagen sollte, dass ich mir das nun wirklich sparen könne.
Dann gingen wir.
Wohin gingen wir?
Nach Ubekilen hinunter.
Zu den Bootsstegen hinunter.
Zur Brücke hinauf.
Nach Gamle Tybakken hinunter.
Zu der Fabrik, die Kunststoffboote goss.
Auf den Berg hinauf.
Zu dem kleinen Waldsee Tjenna.
Zum B-Max hinauf.
Zur Fina hinunter.
Wenn wir denn nicht auf der Straße herumliefen, in der wir wohnten, oder vor einem der Häuser dort herumlungerten oder auf dem Bordstein saßen oder in dem großen Kirschbaum hingen, der niemandem zu gehören schien.
Das war alles. Das war unsere Welt.
Aber was für eine Welt!
Ein Neubaugebiet besitzt keine Wurzeln in der Vergangenheit, auch keine Verästelungen in den Himmel der Zukunft, wie die Trabantenstädte sie einmal hatten. Neubaugebiete ent standen als eine pragmatische Antwort auf eine praktische Frage, wo sollen die vielen Zugezogenen wohnen, ja genau, im Wald, da weisen wir ein paar Grundstücke als Bauland aus und bieten sie zum Verkauf an. Das einzige Haus, das dort auch früher schon gestanden hatte, gehörte einer Familie namens Beck, der Vater stammte aus Dänemark und hatte das Haus eigenhändig mitten im Wald erbaut. Sie besaßen kein Auto und weder eine Waschmaschine noch einen Fernseher. Keinen Garten, nur einen Hof aus festgetrampelter Erde zwischen den Bäumen. Brennholzstapel unter Plastikplanen und im Winter ein umgestülptes Boot. Die beiden Schwestern Inga Lill und Lisa gingen in die Gesamtschule und passten in den ersten Jahren, die wir dort wohnten, auf Yngve und mich auf. Ihr Bruder hieß John, er war zwei Jahre älter als ich, trug seltsame, selbst genähte Kleider, und die Dinge, die mich interessierten, fand er völlig uninteressant, er wandte sich anderem zu, aber wir wussten nicht, was es war. Als er zwölf war, baute er sich sein eigenes Boot. Nicht wie wir, nicht wie diese Flöße, die wir aus Träumen und Abenteuerlust zu zimmern versuchten, sondern ein richtiges, stabiles Ruderboot. Eigentlich hätte er gemobbt werden müssen, aber das wurde er nicht, der Abstand zwischen ihm und uns war in gewisser Weise zu groß. Er war keiner von uns und scherte sich auch nicht darum, es zu sein. Sein Vater, der Fahrrad fahrende Däne, der vielleicht schon damals in Dänemark den Wunsch gehegt hatte, alleine mitten im Wald zu leben, muss ent täuscht gewesen sein, als die Pläne für die Siedlung vorgelegt und genehmigt wurden und die ersten Baumaschinen
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